Interview 3: Die ersten Jahre des Logozentrums Lindlar 1991 bis ca. 2000
Erstellt am 12. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, mit der Eröffnung des Logozentrums Lindlar im Jahr 1991 begann die Ära der Intensiv-Sprachtherapie in Lindlar – man darf wohl auch sagen in Deutschland.
Erzählen Sie mir, wie die Anfänge aussahen und wie sich die Entwicklung fortgesetzt hat.
Middeldorf:
Ja, Sie können sich vorstellen, dass – wenn man bei Null anfängt und man sehen kann, dass sich daraus etwas Reales entwickelt – dass das ein unglaublich erfüllendes Gefühl ist.
Der therapeutische Aufbau des Zentrums war für alle eine spannende Zeit. Denn wir begannen, in völlig neuen Strukturen zu arbeiten. Der existenzielle Druck war nicht unbeträchtlich. Es ging am Anfang ums Überleben.
Intensiv-Sprachtherapie für erwachsene Patienten gab es bis 1991 nicht. Logopädische Intensivtherapie war ein völlig neuartiges Therapieformat. Das gab es vorher weder in Deutschland noch im deutschsprachigen Europa. Meines Wissens nach auch nicht im fremdsprachigen Europa.
Interviewerin Frau B.:
Dann waren Sie ja ein Pionier auf dem Gebiet der Intensiv-Sprachtherapie !
Middeldorf:
Ja, so kann man sagen.
Erst heute wird mir deutlich – je mehr ich die ersten Jahre Revue passieren lasse – wie innovativ die Wege waren, die wir damals gegangen sind.
Interviewerin Frau B.:
Welche ersten Erfahrungen machten Sie auf dem neuen Terrain ?
Middeldorf:
Die ersten Patienten, die sich in den ersten Wochen und Monaten im Logopädischen Behandlungs- und Rehabilitationszentrum Lindlar aufhielten, signalisierten mir, dass sie in den 6 Wochen tatsächlich etwas lernen konnten, wonach sie sich bis dahin ständig gesehnt hatten – nämlich ihre Sprache, ihr Sprechen oder ihre Stimme in kürzerer Zeit deutlich zu verbessern.
Für mich erwies sich in den ersten 2, 3 Jahren jeder Tag, an dem sich wieder ein potenzieller Patient bei uns meldete, als Indiz für die Richtigkeit der Intensivtherapie. Denn in den wachsenden Anfrage-Zahlen spiegelte sich offensichtlich ein dringendes Bedürfnis nach Intensität in der Sprachtherapie.
Interviewerin Frau B.:
Wie kamen die Anfrager an Sie heran ? Und das Ganze ist doch offensichtlich recht schnell geschehen !?
Middeldorf
Nun, die Neuigkeit von der Intensiv-Logopädie sprach sich unter Betroffenen, die sich in Kliniken, in Therapie-Zentren oder in Selbsthilfegruppen trafen, fast wie ein kleines Lauffeuer herum.
Stellen Sie sich das aber bitte nicht so vor, dass dann Hunderte zusammengesessen und über die neue und wirksamere sprachtherapeutische Hilfe in Lindlar gesprochen hätten. Nein, die Mund-zu-Mund-Propaganda passierte mal hier, dann einmal dort – an den Orten, wo man sich halt mit Gleichbetroffenen trifft.
Interviewerin Frau B.:
Können Sie sich noch an die ersten Tage und Wochen erinnern ?
Middeldorf:
Oh ja, sogar sehr gut.
Im Sommer 1991 fand die Geburtsstunde statt. Wir begannen im Juli 1991 mit 4 Wohnpatienten und 2 Therapeuten, das waren Frau Diplom-Pädagogin Holper und ich.
Mitarbeiter der ersten Stunde im Wohnbereich waren Frau Friep. im Büro, Herr Mach. als Hausmeister und Frau Mei. als Sozialdienst.
Ständig waren die fleißigen Helfer Frau Heidrun Becker, meine Schwester und ihre Freunde, und Chantal Middeldorf, meine zu jenem Zeitpunkt Sprachbehindertenpädagogik studierende Tochter, zugange, Telefondienste zu machen und Prospekte an Anfrager zu versenden. Ihre Mitarbeit hatte für mich einen unbezahlbaren Wert.
Weil ich die Medien über den Beginn von Intensiv-Sprachtherapie in Lindlar verständigt und sie zu einer Pressekonferenz eingeladen hatte, kamen der Kölner Stadtanzeiger, das WDR-Fensehen und zwei, drei kleinere Regionalzeitungen. Ich war sehr angetan von der regen Diskussion, die das Thema Intensivtherapie bei den Redakteuren hervorrief.
Am nächsten Tag war ein Filmteam des WDR da und drehte allerlei, u.a. auch mich, als ich mit einem stotternden Patienten in dem kleinen Park gegenüber Sprechübungen während des Gehens machte.
Am übernächsten Abend lief in der Aktuellen Stunde des WDR eine 10minütige Sendung über das „neue“ Logo-Zentrum. In der Samstagsausgabe des Kölner Stadtanzeigers am folgenden Wochenende erschien ein ganzseitiger Artikel mit der Überschrift: Neues Zentrum für Intensiv-Sprachtherapie.
Kurz danach kam das NDR-Fernsehen ins Haus, um sich ein Bild vom Lindlarer Zentrum zu machen. Mit der Ausstrahlung im Rahmen der VISITE-Sendung einige Tage später wurde unser Zentrum über die NRW-Landesgrenzen hinaus bekannt.
Dann kam auch ein Regional-Radiosender auf mich zu und bat um ein ca. 10-minütiges Live-Interview. Oh, das war äußerst spannend, weil zwei oder drei Anrufer direkt in die Sendung hineingeschaltet wurden.
Interviewerin Frau B.:
Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich auf diese Anlässe gut vorbereitet haben ?!
Middeldorf
Sie werden sich wundern – aufgrund meiner vielen praktischen Alltagsaufgaben hatte ich dafür an sich keine Zeit übrig. Mein Tagesplan war anfangs so voll, dass ich es fast als störend empfand, mich mit den Medien zu beschäftigen.
Nein, die Medien waren damals extrem wichtig. Nicht deshalb, um sich im Focus des öffentlichen Interesses zu sonnen, nein, weil es einzig darum ging, potenzielle Patienten zu erreichen und sie durch Informationen über die neue Intensität zu bewegen, zum Hörer zu greifen und uns anzurufen oder zu faxen.
Zu dem Zeitpunkt gab es – wenn ich mich recht erinnere – noch kein Internet und keine E-Mails in der Form wie heute.
Kurz:
Es hat mir gefallen, diese Medien als Multiplikatoren zu sehen und zu nutzen. Wenn ich kritisch zurückblicke, dann muss ich sagen, dass es erheblich länger gedauert hätte, intensivtherapeutisch und damit auch wirtschaftlich in Schwung zu kommen, wenn dieses Medieninteresse an der Intensiv-Therapie nicht bestanden hätte.
Andererseits suchen die Medien ihrerseits aus kommerziellem Interesse nach Informationen über Neuigkeiten, über die sie schreiben oder senden können und die von öffentlichem Interesse sind.
Und Intensive Sprachtherapie – das gab`s noch nicht. Das war was Neues. Das Medieninteresse wäre bestimmt nicht aufgekommen, wenn Intensiv-Therapie anderswo schon existiert hätte.
Von unserem Unternehmensberater wurde uns immer wieder eingeschärft, dass medienwirksame Öffentlichkeitsarbeit eine der wichtigsten Marketingmaßnahmen ist.
Interviewerin Frau B.:
Ist dadurch dann der Schwung gekommen ?
Middeldorf
Nun, nach jeder Veröffentlichung kamen etwa 15 Anfragen, schriftlich oder per Telefon. Das war sehr ermutigend. Wir spürten, dass wir bei Zuschauern und Radiohörern auf Interesse stießen.
Wir alle waren fast euphorisch, als wir dann innerhalb kürzester Zeit 4 Anmeldungen für jeweils 6 Wochen vorliegen hatten.
Obwohl die Bauarbeiten am 2. Apartmentkomplex noch nicht abgeschlossen waren, wurden Mitte Juli 91 im ersten Komplex die ersten 4 Apartments auf Vordermann gebracht und im Picobello-Zustand den ersten Gästen präsentiert.
Ich erinnere mich mit größtem Vergnügen an den ersten Mittwoch des Zentrumsbetriebs, den Anreise- und Aufnahmetag.
Die 4 ersten Patienten, vier Damen im Alter von ca. 45 bis 70 Jahren mit Aphasie, begleitet von ihren Ehepartnern, konnten wir schließlich nachmittags zwischen 14 und 16 Uhr in Empfang nehmen.
Wir waren sehr nervös, in freudiger Erwartung. Wie würde der Erstkontakt vonstatten gehen ?
Wir hatten es so organisiert, dass die 8 angereisten Personen – so wie in jedem Hotel – bei Ankunft zuerst in der Rezeption die Apartmentschlüssel entgegennahmen, dann von unserer Hausdame zu ihrem Apartment geleitet und dort eingewiesen wurden. Danach konnten sie sich frisch machen und sich auf die Begrüßung um 16:30 Uhr im Konversationsraum vorbereiten.
Nachdem die 8 Personen in Raum 98 Platz genommen hatten, wurden sie von mir in dem noch jungfräulichen Logopädischen Behandlungs- und Rehabilitationszentrum Lindlar herzlich willkommen geheißen. In dieser Begrüßung wurde ganz schnell deutlich, dass der Name unseres Zentrums einfach zu lang war. Von Stund an sprachen wir nur noch vom Logozentrum Lindlar.
Ich begrüßte die Gäste sinngemäß mit folgenden Worten: „Verstehen Sie sich als erste Akteure in diesem neuen Zentrum und als Teil einer „Weltpremiere in Sachen deutscher Intensivsprachtherapie“ und damit als erste Intensiv-Patienten des Logozentrums Lindlar als auch als erste Gäste unseres Wohnparks.“
Dann wurde jede Patientin gebeten sich vorzustellen, über sich einiges zu erzählen, z.B. den Namen zu nennen, den Wohnort, die Diagnose und die eigenen Wünsche, über die Form und Intensität der bisherigen ambulanten Sprachtherapie, über ihre Hobbies usw. sowie – und das war mir sehr wichtig – woher sie von der Existenz der Intensivtherapie Lindlar erfahren hatten.
Wenn eine von den 4 Patientinnen sprachlich zu der Vorstellung nicht in der Lage war oder Hilfe brauchte, sprang der Ehepartner sofort zur Hilfe.
Übrigens, an der Begrüßungszeremonie hat sich in den vergangenen fast 25 Jahren kaum etwas verändert.
Doch ! Von Anbeginn bis 2013 lag die Begrüßung im Aufgabenbereich des „Chefs“. Ich fand es als gleichzeitig notwendig und schön, alle neu angereisten Patienten bei der Gelegenheit persönlich kennen zu lernen.
Es wurde mir anfangs schnell klar, dass dieses Kennenlernen für mich in Zukunft unentbehrlich sein würde. Warum ?
Ich hatte dabei nämlich die Gelegenheit, zu Beginn der Intensivphase unserer Patienten in einer lockeren Gesprächssituation und -runde auf kompakte Weise das spontane Sprechen eines jeden Patienten wahrnehmen zu können und so einen ersten Eindruck von der Besonderheit seiner Art der Sprachgestaltung, seines Sprechens oder seiner Stimmverwendung zu gewinnen.
Und,- was nicht unerwähnt bleiben darf – in den ersten Wochen des Hierseins wurde mir von unseren 4 ersten Patientinnen etwas präsentiert, was ich nie vorher in meinem Therapeutendasein erlebt hatte: nach etwa 2 Wochen hellten sich die Gesichter dieser Patientinnen auf, jede Patientin bestätigte meine Frage, ob sie jetzt bereits eine Wirkung der intensiven Lernarbeit spüre, mit JA, und so konnte ich in den Folgewochen zum ersten Mal in meinem Leben beobachten, dass 6 Wochen intensiver Sprachtherapie tatsächlich beobachtbare Verhaltensänderungen hervorrufen – und das bei allen 4 !
Übrigens, das stellte ich deshalb fest, weil ich den Anfangsstatus des spontanen Sprechverhaltens erinnern und mit dem Erscheinungsbild gegen Ende der Therapiephase z. B. in einem zwanglosen Gespräch auf dem Flur oder in der Aphasiegruppe vergleichen konnte. Das war in den ersten Wochen des Bestehens unseres Zentrums ein gigantisches Erleben: zu sehen und zu hören, dass ein aphasischer Mensch innerhalb weniger Wochen besseres Sprachhandeln zeigen konnte ! Während meiner ambulanten Therapeutenzeit ist mir so etwas in dieser Deutlichkeit nie vorgekommen. In der Ambulanz dauerte es nämlich viele Monate, bis meine aphasischen Patienten auch nur in Ansätzen in spontaner Kommunikation besser sprachen – wenn überhaupt ! Und jetzt erlebte ich das ganz konkret nach „nur“ 6 Wochen intensiver Sprachtherapie ! Ich konnte diese Beobachtungen in den ersten Monaten kaum glauben, obwohl ich mir das zutiefst gewünscht hatte.
Interviewerin Frau B.
Das muss für Sie ja ein starkes Glücksgefühl hervorgebracht haben !
Middeldorf
Ja, das waren sehr starke, emotionale Momente der riesigen Freude – für die Patienten und für uns Therapeuten.
Und Ähnliches konnte ich dann auch bei stotternden und stimmgestörten Patienten beobachten. Die Dankesschreiben vieler unserer ehemaligen stotternden und stimmgestörten Patienten lehrten uns, dass Intensität im therapeutischen Lernen generell die Therapiewirksamkeit überzeugend vergrößerte.
Damit war die erste, in der praktischen Sprachtherapie gewonnene, durch erste empirisch-praktische Daten belegte große Erkenntnis geboren, die dann im Laufe der Jahre das überzeugendste Argument für Lindlar wurde.
Interviewerin Frau B.:
Sie erwähnten, dass die Begrüßung der angereisten Patienten zu Ihrem Arbeitsbereich gehörte – bis 2013. Begrüßen Sie heute nicht mehr ?
Middeldorf
Doch, nur nicht mehr in dem formalen Rahmen am Mittwochnachmittag. Immer mal zwischendurch.
Aufgrund der Tatsache, dass ich mich vor 2 Jahren entschloss, kürzer zu treten, musste ich mich in Folge dieser Entscheidung natürlich dazu durchringen, insgesamt einiges Liebgewonnene abzugeben. Dazu gehörte auch die wöchentliche Begrüßung.
Heute macht das unsere langjährige Teamleitung der Logopädie und heutige therapeutische Leitung des Zentrums – Frau Keck auf sehr frische und freundliche und fachkompetente Weise.
Heute bemühe ich mich, die neuen Patienten bei diversen Gelegenheiten anzusprechen, um quasi beiläufig einen Eindruck von ihren Sprachäußerungen zu gewinnen. Das klappt recht gut. Dann sitzen wir oft gemeinsam in unserem Wartebereich bei einem Kaffee und plaudern über dies und über das.
Interviewerin Frau B.
Ich möchte noch einmal auf die Anfänge zurück kommen. Welche Erlebnisse hatten sie in den ersten Monaten noch ?
Middeldorf
Nun, nach der Geburt des Zentrums befanden wir uns, wie das im menschlichen Leben auch so ist, bald schon nach kurzer Lebenszeit im sogenannten Krabbelalter.
Wir beobachteten Tag für Tag Neues, das auf uns zukam. Ein Beispiel für Erfahrungen, die wir anfangs nicht vorhersahen und was Sie möglicher Weise wundert: Viele Bürger in Lindlar wussten anfangs nichts mit dem Logozentrum anzufangen. Es blieb innerorts recht unbekannt.
Doch mit dem Steigen der Zahl auswärtiger Patienten drang das Zentrum mehr und mehr in das Bewusstsein der Lindlarer Bürger. Das erkannten wir daran, dass von unseren angereisten Patienten kaum noch Klagen laut wurden hinsichtlich unbeschilderter Zufahrten oder Irrfahrten. Sie bekamen nämlich beim Nachfragen nach dem Weg zum Logozentrum von den Bürgern zunehmend eindeutige Wegebeschreibungen zu uns in die Kamperstraße 17 – 19.
1996 – 5-jähriges Jubiläum – ich erinnere mich gut, ich freute mich in meiner Begrüßungsrede die Stadtväter wissen zu lassen, dass unsere Patienten aus allen Teilen der Bundesrepublik immer wieder lobend hervorhoben, dass die Lindlarer Bürger ausgesprochen freundlich, hilfsbereit, zuvorkommend und einfach nett seien. Das hören wir übrigens auch heute.
Der Krabbelphase entwuchsen wir recht bald, wir kamen schnell in die Phase der Sammlung erster intensivtherapeutischer und praktischer Erfahrungen.
Die Gestaltung des Therapietages gelang zunehmend besser, spezielle Wünsche der Patienten konnten gezielter ermittelt und befriedigt werden.
Es war auch die Zeit der permanenten Ideenfindung und der Gelegenheiten, neue Gedanken kreativ in Taten umzusetzen, Bestehendes zu verbessern, ja auch die Apartments zu verschönern, zu komplettieren und auszubauen.
Im Laufe der ersten Jahre hatten wir natürlich auch Phasen der personellen Veränderungen: Erste Mitarbeiter gingen, weitere neue kamen.
Aufbauprozess-Gedanken in allen Köpfen an allen Stellen !
Das Innovative, das Experimentelle, die neuen Erkenntnisse in der therapeutischen und verwaltungstechnischen Arbeit stellten uns konstant vor neue, spannende Herausforderungen. Der damit verbundene große Reiz ließ uns nicht ruhen.
Der uns selbst gestellte Auftrag lautete von Anfang an bis heute: Wir Akteure und Mitarbeiter in unserem Logozentrum sind für den Patienten da und für seine Partner !
Unsere Gäste suchen unser Logozentrum aus einem einzigen Grund auf: wegen unseres besonderen Angebots im Intensivtherapie-Format.
Bitte stellen Sie mir eine weitere Frage – mir scheint, dass ich in nostalgische Schwärmerei verfalle.
Interviewerin Frau B.:
Nein, es interessiert mich, Blicke in die Geschichte des Logozentrums zu werfen. Können Sie mir die Entwicklung des Zentrums an Hand anderer Beispiele verdeutlichen ?
Middeldorf:
Von den ersten 4, soeben erwähnten Patientinnen im Jahre 1991, wuchs die durchschnittliche Zahl der anwesenden Wohnpatienten in 5 Jahren kontinuierlich auf 18 im Jahr 1996. Dazwischen, ich erinnere mich an die Zahl 15 Intensivpatienten, hatten wir den brake-even-point erreicht. Das war aus betriebswirtschaftlichem Blickwinkel natürlich ein sehr, sehr wichtiger und bedeutender Meilenstein.
Innerhalb der ersten 5 Jahre blickten wir bereits auf rund 700 Intensiv-Therapien zurück. Aufgrund der bis dahin beachtlichen Zahl an Intensivtherapien konnten wir im Fachlichen auch mittlerweile auf bemerkenswerte Ergebnisse im sprachrehabilitativen Bereich verweisen.
In 1996 waren zum ersten Mal zwei österreichische Patienten und ein in der Schweiz lebender Patient bei uns.
Das Logozentrum und der Wohnpark brachten es nun zusammen auf mittlerweile 26 Mitarbeiter.
In den ersten Jahren hatten wir noch keine hauseigene Ergotherapie und keine Physiotherapie. Da mussten wir einige Patienten bitten, in die örtlichen ambulanten Praxen zu gehen. Aber 1997 hatten wir den Startschuss der Praxis für Ergotherapie und ein Jahr später für die Physiotherapie-Praxis – mit eigenen Zulassungen.
Gott sei Dank, dadurch konnten wir unseren Patienten Therapiepakete mit interdisziplinärem Charakter anbieten. Intensive Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie sozusagen unter einem Dach. Ergotherapie und Physiotherapie wuchsen bis 2002 auf jeweils 7 Mitarbeiter an.
Ach, ich muss noch einmal zu den Anfängen des Zentrums zurückspringen.
Es wird Sie interessieren, dass wir anfangs mit größter Freude ein für uns unbekanntes Phänomen kennen lernten, was anderswo unseres Wissens nicht zu finden war: das „freiwillige“ Wiederkommen von Patienten.
Als ich in der zweiten „Patientengeneration“ im Herbst 1991 von der Ehefrau eines aphasischen Mannes angesprochen und gefragt wurde, ob sie mit ihrem Mann in einem halben Jahr wieder kommen dürfte, war in diesem Moment ein neues Therapieformat kreiert: das Intervall-Format. Nach einer Intensiv-Phase bei uns ging man nach Hause in die Konsolidierung bei ambulant weiterführender Logopädie. Und nach ca. 6 Monaten kam man wieder.
1996 bestand unsere Klientel zu einem Prozentsatz von rund 60 % aus sogenannten, überwiegend neurologisch betroffenen Wiederkommern. Patienten kamen damals bereits zum 2., 3. oder 5. mal nach Lindlar.
Eine aus Süddeutschland stammende Patientin wurde im Februar 1997 bereits zum 10. Mal in unserem Zentrum begrüßt. Das war ein gebührender Grund, wieder einmal zu feiern und zu singen.
Aprospos: Singen bot ich meist in der Samstag-Gruppenstunde an, wir sangen bekannte Volkslieder, Chansons von Hannes Wader, Reinhard Mey, auch Shanties und Spirituals, ich begleitete uns auf der Gitarre. Das Singen hat uns allen immer sehr viel Spaß gebracht. Für mich war bei den rechtsseits gelähmten Aphasikern interessant zu beobachten, wie die meisten mit ihrer intakten rechten Gehirnhälfte aktiv mitmachen, nicht nur den Ton treffen und die Melodie halten können, sondern auch den mit der Melodie und dem Rhythmus verknüpften Text während des Singens fast verständlich herausbringen.
Interviewerin Frau B.
Gibt es das Phänomen des Wiederkommens heute noch ?
Middeldorf
Ja, durchaus, heute sogar in einer zum Teil viel strukturierteren Gestalt und mit zeitlich geplanten Intervallen. Vielleicht erzähle ich Ihnen in der nötigen Kürze, dass sich das Intervall-Format für viele aphasische Intensiv-Patienten zu einem Wunsch-Format entwickelt hat. Ich sollte sagen, dass sich das Intervall-Format prinzipiell bei jedem ehrgeizigen Therapie-Anliegen mit klarer Zielplanung als ein sehr effektives Prinzip erweist.
Das Intervall-Konzept wurde in den Jahren 1998, 1999 zum ersten Mal als tragendes Prinzip auch in der Intensiv-Rehabilitation bei schädelhirngeschädigten Patienten angewandt. Lassen Sie mich vielleicht später, wenn Sie wollen, darüber etwas ausführlicher sprechen.
Aber allgemein kann man sagen, dass auch das Intervall-Format uns neue Erkenntnisse gebracht hat. Wenn Intensiv-Patienten nach einem halben Jahr oder einem Jahr wiederkommen, dann kann man bei den meisten sehr schön Veränderungen feststellen.
So wurden praktisch Langzeitbeobachtungen möglich – und damit fachlich gesicherte, empirische Beschreibungen von Entwicklung.
Wenn wir die ältesten Videoaufzeichnungen eines Patienten mit den jüngsten vergleichen und auch die dazwischen liegenden Aufnahmen betrachten, dann erhalten wir auditiv und visuell wertvolle, objektivierende Einblicke in langzeitige Entwicklungsverläufe. Anhand dieser Dokumente lassen sich überzeugende, empirisch gesicherte Aussagen machen über sprachliche Entwicklungsverläufe bei jedem sprachgestörten Menschen.
Ein Faktum, was uns nicht nur beim Verfassen von Therapieberichten und Gutachten äußerst hilfreich ist, sondern was als Beleg der Wirkung unseres intensivtherapeutischen Arbeitens gewertet werden muss.
Interviewerin Frau B.
Nun noch eine letzte Frage zu den Reaktionen der Fachwelt auf die Entstehung der Intensivtherapie in Lindlar. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht ? Es ist doch anderen Therapieanbietern wohl nicht entgangen, dass Intensivtherapie interessant ist ?!
Ich will fragen: Wurde Ihr Konzept von anderen kopiert ?
Middeldorf
In den ersten 15 – 20 Jahren interessanter Weise nicht. Ich konnte anfangs kein „Abkupfern“ entdecken. Genau das hatte ich – ehrlich gesagt – schon früh erwartet.
Heute erlebt der Begriff Intensive Sprachtherapie in der Aphasie-Therapie ja eine nahezu inflationäre Verbreitung. Viele Anbieter propagieren im Internet ihre Intensiv-Therapie. Schaut man jedoch genauer dahinter, dann kommt die Therapiefrequenz nicht an unsere heran. Nun, unsere Erfahrung kann uns niemand nehmen, unsere Expertise als Intensiv-Behandler seit 1991 überzeugt.
Auf dem Gebiet der Intensivtherapie bei allen Sprachstörungen und bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sehen wir bis heute keinen Mitbewerber. Wohl gab und gibt es spezialisierte Therapieeinrichtungen für Kinder, für Stotternde oder aphasische Menschen, die es z.T. auch schon vor uns gab, doch wir haben uns eine Alleinstellung als Zentrum für Intensive Sprachtherapie bei allen Sprachstörungen erarbeitet.
Sie fragten nach den Reaktionen der Fachwelt auf die Entstehung der Intensiv-Therapie in Lindlar.
Ich möchte in dem Zusammenhang auf die Hürden zu sprechen kommen, über die es galt zu springen, ohne jedoch zu stolpern. Uns wurde anfangs schnell bewusst, dass es für uns nicht einfach war, als nicht-medizinisches Zentrum auf dem Gebiet der früher eher medizinisch durchsetzten therapeutischen Arbeit als New-Comer mit einem neuen Konzept in den Wettstreit mit den traditionellen Formen und den traditionsreichen Stätten der Rehabilitation zu treten.
Um so erfreulicher war es, dass uns die Kostenträger nach und nach als alternative, „irgendwie doch gute“ und transparente Einrichtung tolerierten und akzeptierten und ihre Mitglieder – nicht selten – bei voller Bezahlung aller Kosten, also der Therapie- wie auch der Wohnkosten, zu uns schickten.
Heute werden die Wohnkosten bei Erwachsenen nur noch in den seltensten Fällen übernommen, bei Kindern aber erheblich großzügiger.
Einiges von dem, was die therapeutischen Wissenschaften seit langem theoretisch forderten, setzten wir damals bereits praktisch um: z.B. die Integration der Partner in die Therapie, Gesprächsgruppen, vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre, keine primär symptomorientierte sondern mehr patientenbezogene, nützlichkeitsorientierte Therapie mit Zielsetzungen und mit aktiver Beteiligung der Patienten bei der Zielformulierung – das war „draußen“ lange Zeit, bis in das 2010er Jahrzehnt, allgemein unüblich. Heute ist diese Zielformulierung durch ICF die gewünschte Norm.
Wir konnten therapeutisch Wichtiges in großer, selbst geschaffener Freiheit umsetzen – als winzige Mücke im Konzert mit all den großen Brummern – als kleines Haus mit seinerzeit nur 26 Plätzen im Vergleich mit den großen neurologischen Rehabilitationskliniken mit Hunderten von Betten.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel für den Gegenwind, der uns anfangs entgegenkam:
Ein Schlaganfallpatient mit persistierenden Folgeschäden, er hatte eine globale Aphasie, zeigte erheblichen Sprachverlust, der es dem Patienten verunmöglichte, sprachlich mit anderen Menschen zu kommunizieren. Er kam mit seiner Ehefrau zu uns. Es war für ihn keinerlei Unterhaltung möglich. Der Patient, prämorbid beruflich ein erfolgreicher Geschäftsmann, litt unsäglich unter seinem Schicksal.
Der Kommentar des Chefarztes einer neurologischen Reha-Klinik im östlichen Ruhrgebiet auf die Bitte der Ehefrau, doch ein Empfehlungsschreiben für Lindlar der Krankenkasse zu schreiben, lautete sinngemäß: Was glauben Sie, wer die sind ?! Intensiv-Sprachtherapie ! Das ist doch Hokus Pokus. Die haben doch keinen Mediziner !“ Nun, die beiden waren dennoch bei uns, ich erinnere mich – nicht nur einmal.
Ich wusste, dass wir auf einen teuer bezahlten, angestellten Arzt verzichten mussten aber auch konnten, denn all die Intensiv-Patienten hatten ja nur ihren Aufenthaltsort temporär von zu Hause nach Lindlar verlagert, sie waren medizinisch, also medikamentös eingestellt ! Wozu also ein Mediziner in unserem lern-therapeutischen Zentrum ?
Interviewerin Frau B.
Wie sind Sie mit solch negativen Reaktionen umgegangen ?
Middeldorf
Nun, ich muss zugeben, dass solche und ähnliche Äußerungen, die ich Gott sei Dank im Laufe der folgenden Zeit immer seltener wahrnahm, mich schon geärgert haben, zumal nicht ein einziges Gespräch mit uns von diesen unsachlich sprechenden „Kritikern“ gesucht wurde.
Wir wollten uns mit solchen Querschüssen nicht auseinandersetzen, denn wir wussten, dass es ja um die Betroffenen geht. Und wenn diese „mit den Füßen abstimmen“ und freiwillig nach Lindlar kommen, dann ist das ein ausdrucksvolles Zeichen von Qualitätsanerkenntnis. Wir kümmerten uns also weiterhin um die Entwicklung und den Ausbau der intensiven Lern-Therapie.
Das klappte glücklicherweise, denn wir bekamen seinerzeit wie auch heute von den Patienten positive Rückmeldungen über unser therapeutisches Handeln. Wir bekommen Bestätigungen, wir sehen viele freundliche Gesichter und noch freundliche Zuschriften. Die Patienten geben uns immer wieder das Gefühl, dass sie unser Engagement würdigen und dass sie unsere therapeutischen Maßnahmen wünschen und hochmotiviert durchführen.
Letzten Endes erfüllt es uns mit großer mit Freude und mit Stolz, wenn wir mit unseren medikamentfreien Mitteln erfreuliche Therapieergebnisse erzielen und dass Patienten selbst spüren, dass sie in Lindlar einen gewaltigen Entwicklungsschub erleben. Nur deshalb kommen sie freiwillig zu uns. Diese positiven Signale von unseren Patienten waren in der Anfangszeit und sind auch heute die Faktoren, die uns ein gewisses Selbstbewusstsein haben entwickeln lassen.
Ich unterstreiche voll den Satz, den ich von einem kritischen Patienten, einem Neurologen, hörte. Er sagte: Wer auf lerntherapeutische Weise sprachliche Entwicklungsschübe generiert, der macht etwas richtig.
Wenn Sie nichts dagegen haben, dann würde ich jetzt gern unser Gespräch beenden. Sollte Sie dieses Thema noch weiter interessieren, dann kann ich Ihnen morgen gern mehr über die Reaktionen der Fachwelt und über die Gesundheitsinstitutionen erzählen.
Interviewerin Frau B.
Das ist für mich hochinteressant, ich würde mich sehr freuen.
Middeldorf
Gut, ich schlage vor, wir treffen uns hier wieder um 18 Uhr.
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