Interview 6: „Marketing“ und Sprache
Erstellt am 9. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Midddeldorf, Sie sprachen in einem unserer letzten Gespräche kurz das Marketing an.
Verraten Sie mir etwas über Ihre Marketing-Strategie ? Ihre Idee der logopädischen Intensivtherapie war anfangs ja völlig unbekannt !
Middeldorf :
Sie haben völlig Recht. Deshalb gab es für uns anfangs nur eine wichtigste Aufgabe: Das schnellstmögliche Transportieren der Information über die neue Intensive Sprachtherapie an die Betroffenen.
Es stellten sich wesentliche Fragen: Welche Informationswege stehen zur Verfügung ? Direkte, indirekte ? Über welche Multiplikatoren gehen wir ? usw.
Meine ersten Erlebnisse waren gewissermaßen belastet dadurch, dass Informationsschreiben an die Ärzte weitestgehend ohne Wirkung blieben – eine Tatsache, die wir überhaupt nicht erwartet hatten. Denn wir hatten angenommen, dass Ärzte ihren unter Aphasie leidenden Patienten diese neue Möglichkeit der intensiven Therapie schnell mitteilen würden oder zumindest um weitere Informationen gebeten hätten.
Um so enttäuschender war die Erkenntnis, dass das eben nicht der Fall war und man sich medizinischerseits offensichtlich nicht für neue lerntherapeutische Behandlungsmethoden zu Gunsten der aphasiebelasteten Patienten interessierte.
Und zu unserem Erstaunen gab es – und gibt es heute noch – Aussagen von gestrigen Neurologen, dass „alles, was nach 2 Jahren nicht wiedergekommen ist, gar nicht mehr wiederkommt.“ Oder: „Wenn ich Ihnen eine größere Anzahl an Therapiesitzungen verordne, was glauben Sie wer Sie sind ? Das geht doch zu Lasten meines Budgets. Ich kann doch die übrigen meiner Patienten nicht benachteiligen !“
Nun, nach den ersten Erfahrungen mit den Ärzten als Multiplikatoren, die übrigens erschreckend durchgängig waren, schloss ich im Verlauf der anstehenden Marketingaktivitäten anfangs die niedergelassen Ärzte als Multiplikatoren aus.
Aufgrund der wirtschaftlichen Notwendigkeiten musste jedoch dringend erreicht werden, dass wir eine schnellstmögliche, zufriedenstellende Belegung des Wohnparks mit seinen Apartments erreichten.
Die Botschaft „Da gibt es ein Zentrum für intensive Sprachtherapie in Lindlar bei Köln“ musste direkt an die Betroffenen getragen werden – denn über Umwege zu gehen zeigte sich ja im Großen und Ganzen als zu ineffektiv – übrigens auch bei den Krankenkassen.
Ich plädierte dafür, den „Endverbraucher“ direkt mit dem „Dienstleistungsprodukt“ bekannt zu machen und als „Produzent“ gleichzeitig auch als „Verkäufer“ zu agieren.
Das vollzog sich auf unterschiedlichste Weisen:
Anzeigen in Wochenzeitungen mit der zentralen Botschaft: „Intensiv-Sprachtherapie bei Aphasie im Logop…..“, in Form von Zeitungsberichten in der überregionalen Tageszeitung Kölner Stadtanzeiger über die Neuartigkeit und Besonderheiten der Intensivtherapie, in Form von Fernsehberichten in der aktuellen Stunde des WDR-Fernsehens und in der NDR-Visite-Sendung, in Form der Platzierung einer homepage im zu jener Zeit wachsenden Internet unter der domaine www.logozentrumlindlar.de, in Form von kurzen Veröffentlichungen im Internet unter bewusster Verwendung von Suchwörtern, in Form meines Buches „Komm doch aus dem Schweigen“, 1999 im Verlag Gesundheit Berlin, mit zahlreichen Sachartikeln und 38 persönlichen Berichten von ehemaligen Intensivpatienten, in Form der Gründung und Durchführung der „LSL LogopädischeSeminareLindlar“ mit externen Fachreferenten zur Fortbildung externer und eigener Sprachtherapeuten, in Form weiterer öffentlichkeitswirksamer Berichterstattungen anlässlich unserer fünf – und zehnjährigen Jubiläen, in Form von Beiträgen zur intensiven Aphasietherapie in Fachzeitschriften wie „Aphasie“ und „Not“ und Beiträgen zu eigenen Studienprojekten von 2006 an auf unserer Homepage.
Glücklicherweise erreichten wir mit dieser Art der Öffentlichkeitsarbeit im Laufe der ersten Jahre immer mehr Betroffene direkt.
Wir luden auch betroffene Interessierte grundsätzlich zu einem kostenlosen, persönlichen Beratungsgespräch über rund 2-3 Stunden und zu deren Inaugenscheinnahme des Zentrums ein. Erfreulich viele nahmen dieses Angebot wahr. Immerhin entschieden sich etwa die Hälfte der Interessierten zu einem 6-wöchigen Intensiv-Aufenthalt. Die Aufenthaltsdauer schwankt heute meist zwischen 4 und 5 Wochen.
Im Laufe der Jahre wuchs der Bekanntheitsgrad des Logozentrums Lindlar auch in unserem Fachbereich. Das führe ich letztlich auf die positiven Stimmen der Patienten und auf deren Berichterstattungen bei ihren heimischen Logopädinnen und Ärzten zurück. Auch auf die hausinternen und externen Vorträge, die wir vor Selbsthilfegruppen und vor BGn hielten.
Die spezifische Besonderheit unserer Intensiv-Sprachtherapie und ihre positiven Wirkungen bei den Patienten generierten Anerkennung in der Fachwelt.
Das heutige wissenschaftliche Interesse zur Erfassung der Wirksamkeit der intensiven Aphasietherapie à la Lindlar zeigt, dass wir mit der Einführung unserer Intensität in der Aphasietherapie vor gut 2 Jahrzehnten offensichtlich einen Prozess der Veränderung in Bewusstsein und Praxis der Aphasietherapie angestoßen haben.
Mit großem Respekt gegenüber dem therapeutischen Einsatz und Engagament aller Sprach- bzw. Aphasietherapeuten im ambulanten und medizinisch-rehabilitativen Bereich musste doch die Frage nach der Wirksamkeit der nicht-intensiven (1 – 3 x pro Woche) gegenüber der intensiven Aphasietherapie (mit 15 – 20 logopädischen Wochen-Sitzungen in Lindlar) gestellt werden.
Veröffentlichte Einzelstudien (Promotionsarbeiten, Masterarbeiten) in jüngster Zeit wie die jüngste große Wirksamkeitsstudie untersuchen direkt oder indirekt die Wirksamkeit bestimmter Therapiemethoden sowie die Frequenzen der Wochensitzungen.
Jahrelange, therapiepraktische Erfahrung im Logozentrum Lindlar mit heute rund 7000 Intensivtherapien bestätigen die Richtigkeit der Überlegenheit der intensiven Aphasietherapie gegenüber der nicht-intensiven Aphasietherapie.
Leider hatte vor 20 Jahren unser Logozentrum Lindlar, wie ich schon erwähnte, aufgrund der nur minimal zur Verfügung stehenden Finanzmittel keine Möglichkeit, eigene Wirksamkeitsstudien durchzuführen und zu veröffentlichen.
Deshalb war die Initiative der Universität Münster hinsichtlich der flächendeckenden Wirksamkeitsstudie für uns wichtig. In den Jahren 2012, 2013 und 2014 waren auch wir als eines von 16 Studien-Zentralen an der Durchführung der Studie beteiligt. Übrigens, mit gewissem Stolz konnten die beiden Protagonisten in unserem Haus, Frau Keck und Herr Krüger verkünden, dass unser Haus im Vergleich mit allen anderen Studienzentralen die höchste Patientenzahl erreicht hatte.
Werden dann in 2016, 2017 oder später aufgrund der Resultate dieser bisher weltweit größten Wirksamkeitsstudie auf dem Gebiet der Aphasietherapie die Heilmittelrichtlinien für aphasische Menschen geändert und die Zugänge für die Betroffenen zu Intensivtherapien erleichtert, dann können wir Lindlarer festhalten, dass die Intensive Aphasietherapie in der jetzt wissenschaftlich untersuchten Form von uns bereits lange Zeit vorher eingeführt und zum Wohle der notleidenden Patienten praktiziert worden ist.
Ich freue mich sehr über diesen Fakt.
Interviewerin Frau B.:
Ich habe gehört, dass diese Studie etwa ein Setting hatte, was dem von Lindlar glich. Das ist – wenn ich das sagen darf – ein Kompliment, was man Ihrem Intensiv-Ansatz gegenüber zum Ausdruck gebracht hat.
Middeldorf:
Na ja, da wurde all das Positive und Machbare aufgegriffen, was bei uns beobachtbar und was sich in der Umsetzung als möglich und sinnvoll erwies. Z.B. die hohe Anzahl an täglichen Sitzungen, über die wir schon Mitte der 1990ger Jahre berichtet hatten.
Man hat heute den Mut, dem aphasischen Patienten viel mehr zuzutrauen als früher und ihm viel mehr abzuverlangen.
Interviewerin Frau B.:
Meine für heute letzte Frage: Was bedeutet für Sie Sprache ?
Middeldorf:
Oh, eine interessante Frage zu einem großen Thema, deshalb bitte ich Sie, sich jetzt erst einmal mit einer kurzen Antwort zufrieden zu geben.
Sprache und Sprechen machen im weitesten Sinne uns Menschen aus – durch Sprache und Sprechen entwickelt sich jeder zu einer einmaligen Persönlichkeit. Mit angewandter Sprache bringen wir unsere Gedanken, Ideen, Vorhaben usw. verbal und schriftlich zum Ausdruck, das Verstehenkönnen von Sprache, das Sprechen, Schreiben und Lesen sind die Instrumente, mit denen wir mit anderen Menschen in sprachliche Kommunikation treten, über die wir soziale Kompetenz und Bildung entwickeln und am aktuellen Leben teilhaben.
Sprache gebrauchen heißt generell das Teilhaben nutzen und in den verschiedensten Institutionen unserer zivilisierten, demokratischen Welt initiativ und wirksam werden zu können.
Was es bedeutet, die Sprache nur eingeschränkt zu besitzen oder nur bruchstückhaft gebrauchen zu können, das können wir „Sprach- und Sprechgesunden“ vielleicht dadurch erfassen, dass wir uns die zahllosen Konsequenzen von eigener, gestörter Sprache in unserem eigenen Leben ausmalen, wie sich dann unser alltägliches Leben und unsere Gefühlswelt entwickeln würden.
Wem der Erwerb der Sprache erschwert ist, z.B. dem kleinen Kind, dem muss geholfen werden beim Hineinwachsen in die sprachliche Welt.
Wer die Sprache verloren hat, dem muss geholfen werden, in die Welt mit Sprache zurück zu finden.
Jeder Mensch ist sprachlernfähig – ob jung, ob alt. Das zeigen all diejenigen, die Intensive Sprachtherapie erleben.
Interviewerin Frau B.:
Danke, das war wieder sehr interessant. Sie sprechen manche Gesichtspunkte an, über die man sich als – wie Sie sagen „Sprechgesunder“ – überhaupt noch keine Gedanken gemacht hat. Mir kommen ständig neue Fragen.
Wenn Sie die Zeit für ein weiteres Interview erübrigen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Middeldorf
Gern. Ich sehe auf meinem Plan, dass ich morgen Abend ab halb acht frei bin.
Interviewerin Frau B.:
Danke, ich komme dann.
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