Therapie-Schritte zum fehlerfreien Sprechhandeln bei Aphasie
Erstellt am 28. September 2020
KURZ-DARSTELLUNG meines aphasiegruppentherapeutischen Programms SPRECHEN und LESEN
Mein Vorgehen zur Restituion verlorener sprecherischer Fähigkeiten bei Aphasie
von Dr. Volker Middeldorf
Einleitung
Das Erste, was wir Sprachtherapeuten auf die Ziel-Frage: „Was möchten Sie in der Therapie erreichen ?“ von 99 % der aphasischen Menschen mit Sprechproblemen hören ist : „Wieder sprechen können !“
Das ist für mich ein so schwergewichtiges Teilhabeziel, dass ich dem bei der inhaltlichen Gestaltung meiner Aphasie-Gruppen Folge leiste. „Wieder sprechen können“ steht an erster Stelle.
Ich möchte den Patienten in jeder Gruppensitzung ein weitestgehend „fehlerfreies Sprecherlebnis“ vermitteln.
Das sage ich den Patienten zu Beginn unserer Gruppenarneit auch. Ich versuche, jedes Gruppen-Mitglied dazu zu bringen, mit mehr oder weniger individueller Unterstützung durch mich hier in der Gruppe weitestgehend fehlerfreie Sprecherlebnisse zu erreichen.
Ich erkläre den Gruppen-Teilnehmern, dass die Sprache als System und das Sprechen als Sprachäußerungs-System im gesamten Gehirn verortet ist und nicht etwa nur in einem sogenannten Sprachzentrum.
Daraus leite ich ab, dass – obwohl heute das sprecherische Handeln gestört ja oft verunmöglicht ist – dass trotz dieser Abrufstörung jeder von den aphasischen Patienten sprecherische Potenziale bzw. Kompetenzen aus früheren Zeiten im gesamten, übrigen Gehirn besitzt und dass die Sprachtherapie diese Ressourcen bei jedem aphasisch Betroffenen zu mobilisieren trachtet.
Aber wir stehen immer wieder vor dem Problem des schlaganfallsbedingten, neuronalen Funktions-Ausfalls mit diesen fürchterlichen Sprachproblemen.
Dadurch, dass durch Sauerstoffmangel in dem betroffenen Hirn-Areal die Hirnnervenzellen abgestorben sind, fehlen nun Stücke in den Nervenleitungen. Bildlich vorstellbar ist ein neuronales Loch im Sprachnetzwerk. Dadurch sind die betroffenen Nervenleitungen durchtrennt, sodass die elektrobiochemischen Impulse nicht mehr durchschießen können.
Die Lücke, das Loch im neuronalen Netzwerk führt dazu, dass wir nun zwei Nervenenden, rechts und links des Lochs, vorfinden, die nicht wieder zusammenwachsen.
Um aus neuropädagogischer Sicht nun die abgestorbenen Funktionen kompensiert zu bekommen, heißt es, neue Nerven-Leitungen um dieses neuronale Loch herum zu schaffen, bildlich gesprochen sogenannte „Umweg-Leitungen“ zu legen.
Und das geht durch Lernen. Gezieltes, intensives und konsequentes Sprache-Lernen generiert Wachstum von Sprach-Nerven-Leitungen und neue Kooperations-Formen bei den Neuro-Impulsen .
Durch die neuen Leitsungen schießen nun die „neuen“, neu gelernten Sprach-Nerven-Impulse. Das nenne ich Neu-Lernen von Sprache.
Was wir in der Gruppe betreiben ist Lernen unter zwei neuropädagogischen Aspekten:
Erster Aspekt: Mobilisieren von Potenzialen und neues Bewusstsein für das Sprechen und Triggern von Sprach-Kompetenzen.
Zweiter Aspekt: Initiierung von Nerven-Neu-Wachstumsprozessen im sprachlichen Netzwerk (in einem gesunden Areal).
Das sind die zwei Intentionen, die ich in meinen Gruppen verfolge.
Obwohl jeder Gruppen-Teilnehmer unter einem ganz individuellen Sprach-Krankheitsbild leidet und einzigartige Sprachstörungen zeigt, die sich untereinander von Person zu Person nach Schwere, Ausmaß und Struktur der Störungen gravierend unterscheiden, und obwohl jedes Gruppenmitglied ganz individuelle Lernvoraussetzungen mitbringt und nach Art und Weise der psychischen Verarbeitung und Bewältigung der psychosozialen Folgen des Sprachverlustes ganz individuelle Aktivitäts-Zielvorstellungen in die Therapie mitbringt, gibt es bei allen das übergreifende, bei allen vorhandene interindividuelle Therapie-Ziel: das ist das Wieder-Sprechen-Können.
Alle unsere Patienten leiden unsäglich unter ihrem Sprach-Verlust.
Verzweifelt hoffen sie nicht nur auf spürbare Abhilfe bzw. deutliche Verbesserung ihrer sprech-sprachlichen Fähigkeiten.
Sie erwarten auch von Seiten der therapeutischen Profis Aktionen, die sie baldmöglichst wieder in aktive Teilhabe am kommunikativen Leben mit Sprache versetzen.
„Fehlerfreies Sprecherlebnis“ – der Titel meines Aphasie-Gruppentherapieprogramms
Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein gangbares Verfahren zur Ingangsetzung von sprachlich-pragmatisch orientierten Lern- und Sprechprozessen.
Ich nenne es PmL, polimodales-multisensorisches Lernen.
Dieses PmL stimuliert das Wahrnehmen, Verarbeiten und Speichern von Sprache grundsätzlich auf Satzebene.
Ich beginne mit der Präsentation einer Video-Szene, die alle Gruppenteilnehmer*innen konzentriert anschauen und verstehen.
Der szenische Inhalt – meist eine lebendige Handlung – wird von dem eingesetzten Logovid [z.B. Sprechen&Lesen 002] in einem SPO-Satz (gesprochen und geschrieben) beschrieben. Zunächst hören wir uns 3 Mal den gesprochenen Satz an. Dann wird dieser gesprochene Satz 3 Mal schriftlich unterlegt.
Die PatientINNen haben jetzt die Möglichkeit, die Schrift während des Hörens zu scannen und zu schauen, wie das Gehörte geschrieben ist bzw. wie das Geschriebene lautsprachlich klingt. [—> Das dient der Triggerung der Lesekompetenzen und der Stimulierung der Konversions-Prozesse].
Dann wird diese polimodale Präsentation (die gleichzeitige Präsentation der Video-Szene, des gehörten Satzes und des geschriebenen Satzes) beschnitten: Die Video-Szene wird oben links im Bild eingefroren, die Schrift groß hervorgehoben und der Satz wird während dessen 3 Mal gesprochen [bimodal: schriftlich und mündlich].
Dadurch soll die Aufmerksamkeit der Patienten auf das Schriftbild des Satzes und auf das gleichzeitige Hören des Satzes gerichtet werden (Synchronität).
Die polimodale Präsentation des sprachlichen Inhalts zielt auf das multisensorische Wahrnehmen und Verarbeitern des Inhalts bei den aphasisch Betroffenen.
Nach dem 9-maligen multisensorischen Wahrnehmen und Verarbeiten der Stimuli [auf der Route WAHRNEHMEN] sprechen wir dann gemeinsam den auf dem Bildschirm abgebildeten Satz 3 Mal unisono.
Bis hierher findet ein 12 maliges multisensorisches Wahrnehmen und zentrales Verarbeiten des wahrgenommenen Satzes statt.
Das gemeinsame Sprechen wirkt wie das Sprechen mit Leitplanken, wobei der Sprechprozess bei jedem Einzelnen durch den gehörten Sprechklang und Sprechrhythmus stimuliert wird.
Bis zu diesem Zeitpunkt haben die Patienten 12 mal den Satz wahrge-nommen, 9 Mal gescannt und 3 Mal selbst gesprochen.
Jetzt wird jedes Gruppenmitglied der Reihe nach gebeten, diesen Satz wieder zu geben, wortwörtlich, sauber und verständlich artikuliert. [Einzel-Sprechrunde]
Etwa die Hälfte der Patientengruppe benötigt die eine oder andere Hilfestellung. Beispiel: Herr Schnei. braucht Anlauthilfen, um in den Sprechvorgang zu kommen, Herr Hah. braucht das mehrmalige Hören des von mir wiederholt vorgesprochenen Satzes zur tiefergehenden auditiven Speicherung des Satzklangbildes, Herr Mart. braucht die konsequente Korrektur seiner Lautbildung während des Sprechens usw.
Während das einzelne Gruppenmitglied spricht, sind die anderen aufge-fordert, zuzuhören und den Sprechakt innerlich mit zu vollziehen, also innerlich leise mit zu sprechen. [Inneres Sprechen dient der Befeuerung des sprachlichen Netzwerks sowie der neuropädagogischen Vorbereitung auf das laute Sprechen].
Während der individuellen Einzelaktivitäten sind die anderen tatsächlich konzentriert dabei, innerlich den Satz zu sprechen, was man an den dezenten Mundbewegungen beobachten kann.
Nach etwa 12 – 15 Minuten haben wir bei einer Gruppengröße von ca. 7 Gruppen-Mitgliedern dann auch die Einzelaktivitäts-Runde abgeschlossen.
Und danach sprechen wir dann noch einmal gemeinsam unisono den Satz.
Rein rechnerisch ergeben sich bei einer solchen Erarbeitungsrunde folgende Zahlen: Vor der Einzelsprech-Runde haben die Patienten12 mal den Satz wahrgenommen, 9 Mal gescannt und 3 Mal selbst gesprochen.
Während der Einzelaktivität spricht jedes Mitglied den Satz unter Kontrolle mindestens 2 mal, und alle hören bei den anderen 6 Mitgliedern aus deren Mund den Satz insgesamt mindestens 12 mal und alle sprechen den Satz noch einmal unisono laut.
Nach ca. 15 Minuten Gruppenarbeit ergibt sich folgende Bilanz:
Satz hörend wahrnehmen: 28 Mal (Stimulation der Wahrnehmung und
Speicherung des Sprachklangs, der Satz-
Struktur, des Lexikons)
Satz scannen: Mindestens 12 Mal und mehr (max. 25 Mal)
Triggerung der Konversionsprozesse
Selbst Satz sprechen: Mindestens 6 Mal laut, 12 mal leise: 18 x
Triggerung der Sprech-Kompetenzen und
Sprech-Bewegungen, Aktivieren des Mitsprechens
Fragen beantworten: Wenn die Erarbeitungen des fehlerfreien Sprecherlebnisses zügig verlaufen und wenn noch Zeitreserven vorhanden sind, dann stelle ich Fragen zum Subjekt, zur Tätigkeit und zur Objektergänzung, die die Teilnehmer mit dem Satz wortwörtlich beantworten sollen.
[+3-maliges Wiederholen des Satzsprechens im Sinne des fehlerfreien Eintrags, des Abrufs und der Vertiefung]
Das Fragen-Beantworten thematisiert den Dialog. Der GL stellt W-Fragen, die Gruppenteilnehmer antworten.
Manche profitieren davon, weil sie den dialogischen Charakter der Interaktion brauchen und Impulse zum eigenen Sprechen wünschen.
Danach gehen wir über zur nächsten Szene und zu einem neuen Satz, den wir dann auch in der eben beschriebenen Weise erarbeiten.
Was wird lernmethodisch angeregt ?
- Das auditive, hörende Wahrnehmen der Sprache und das Training des Arbeitsspeichers,
- die Konversion, durch synchrones Scannen der Schrift und Hören der Lautsprache, indem also gleichzeitig gescannt und gehört wird und Schrift und Lautsprache assoziiert werden,
- das Sprachverständnis wird erleichtert dadurch, dass die sich selbst erklärende Video-Szene durch einen Satz beschrieben wird und der Patient hier schnell eine Affinität erkennt,
- neuro-psychische Leistungen werden abverlangt wie Konzentration, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Ausdauer (Kondition) usw.
Diesem neuropädagogischen Vorgehen liegen vier grundlegende Lernprinzipien zu Grunde:
- Die massierte polimodale Stimulation zu multisensorischer Wahrneh-mung und zentraler Verarbeitung,
- die Triggerung der Sprach-Kompetenzen,
- die Repetition, das wiederholte Ausführen ein und derselben Sprech-Handlung mit dem Ziel der Etablierung dieser neu-gelernten Handlung und ihrer neuronalen Verankerung,
- das Lernen durch Erfolg (Fehlerfreies Sprech-Erlebnis auch mit Unterstützung).
Generell will ich erreichen, dass die sprechmotorischen Prozesse angeregt und fehlende Funktionen bzw. sprachliche Fähigkeiten neu gelernt werden und dass die Patienten wieder das Gefühl einer gewissen Kontroll-Fähigkeit über den eigenen Sprechvorgang entwickeln.
Perspektivisch soll mit diesem aphasiegruppentherapeutischen Vorgehen den aphasischen Patienten verdeutlicht werden, dass
- die professionelle Sprachtherapie den sprach-restituierenden Weg durch das Erlernen bestimmter Sprachhandlungen weist, dass
- andererseits jede aphasisch betroffene Person selbst aber verantwortlich ist für das Behalten und Automatisieren der neu gelernten Funktionen und dass
- es dazu der konsequenten privaten Funktions-Übung bedarf.
Ich möchte unseren aphasischen Patienten auch näherbringen, dass zu Hause das konsequente Wiederholen, Absichern und Vertiefen des bei uns Therapeuten Gelernten unerlässlich ist, wenn sie dem Ziel des Sprechen-Könnens näherkommen wollen.
Und dabei helfen die polimodalen LogoMedien®, die ein tägliches Üben, Wiederholen und Anwenden des Sprechens ermöglichen.
23.09.2020
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