Interview 8: Das Patientenbild
Erstellt am 7. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Ich habe heute nur eine Frage: Welches Patientenbild haben Sie ?
Middeldorf:
Nun, ich möchte wieder etymologisch beginnen.
Das Wort „Patient“ stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet im ursprünglichen Sinne denjenigen, der leidet und der auch erduldet.
Er ist derjenige, der von seinem Leiden befreit werden möchte.
Der sprachgestörte, leidende Patient wünscht eine Behandlung nach dem besten Stand der wissenschaftlichen und therapiepraktischen Erkenntnis und eine schnellstmögliche, höchstwirksame Sprachtherapie mit Langzeitwirkung.
Die „Therapie“ dient dem Patienten, indem sie ihn durch den Prozess der “Heilung“ aus seinem körperlichen und seelischen Leiden befreit.
Ich hatte zum Thema Sprachtherapie schon einmal gesagt: Sprachtherapie umfasst nach meinem Verständnis Maßnahmen, die dem Heilungsgedanken folgend die Herstellung von sprachlicher Kompetenz, die Wiederherstellung von verlorenen Sprachkompetenzen und die Defektheilung im sprachlich-funktionellem Sinne verfolgen.
Den sprachgestörten Patienten betrachte ich unter körperlichen, psychischen und sozialen Aspekten. Dessen Wunsch nach Zufriedenheit mit seiner Sprache und dem Umgang damit steht an höchster Stelle.
Ich wünsche mir den emanzipierten Patienten, der während des Therapieprojekts mitdenkt und wissen möchte, was warum passiert, von dem ich ehrliche Rückmeldungen zu meinem Therapeuten-Handeln und aktive Mitarbeit erwarte, wie z.B. beim Üben der Therapieinhalte, die ich ihm als Hausaufgabe mitgebe und zu der er mir seine Meinung sagt.
Ich wünsche mir eine positive Patient-Therapeut-Beziehung. Die soll in eine partnerschaftlich-engagierte Zusammenarbeit münden.
Der Patient wünscht sich vom Therapeuten Empathie und das Vermögen, perspektivisch aus seiner Patientenlage heraus seine Probleme zu verstehen und anzugehen.
Der erwachsene Patient erwartet einen erwachsenengemäßen, würdigen und seine Persönlichkeit respektierenden Umgang mit ihm. Das gilt übrigens ebenso für die Patientenpartner. Patient und Partner wünschen sich Verständnis für ihre spezielle Situation.
Sie wünschen sich zutiefst, dass sie in der Therapie mit ihrem Sprach-, Sprech-, Stimm- und Kommunikationsproblem und den daraus resultierenden sozialen und psychischen Problemen ernst genommen werden und dass sie innerhalb eines würdigen Rahmens in der Therapie sachgerechte und ausführliche Informationen hören und Beratungen erhalten.
Die aphasisch Betroffenen und die Partner müssen informiert sein über die aphasiebedingten Umstände, denen der Patient ausgesetzt ist, um psychohygienisch aufgebaut zu werden, nach Eintritt der plötzlichen Andersartigkeit des Betroffenen und der Fremdheit seiner Sprache.
Hirngeschädigte Patienten und ihre Partner brauchen konstruktive Hilfestellungen für den Aufbau neuer alltäglicher Kommunikationsformen und den sprachlich-kommunikativen Umgang miteinander.
Dazu sollten die Partner von Anbeginn in die Therapie einbezogen werden. Von der Therapeutin sollten sie Erläuterungen zu ihrem therapeutischen Handeln erhalten. Eine zeitsparende Form sind regelmäßig stattfindende Hospitationen des Partners in den Therapiesitzungen.
Der Partner sollte die therapeutischen Arbeitsformen, Arbeitsschritte und Lernverläufe beobachten können, die momentan aktuell sind. So kann er das individuelle Lernverhalten des Betroffenen sowie seine mittlerweile neu gewonnenen Fähigkeiten kennen lernen.
Der Partner bekommt idealer Weise Gelegenheit zur Mithilfe während der Therapiesitzung, wodurch er ein therapeutisch förderliches Verhalten dem Betroffenen gegenüber entwickeln kann.
Ich höre immer wieder von Partnern, dass sie gern mit dem Betroffenen zu Hause üben würden, wenn sie wüssten, was sie üben könnten.
Wir sollten die Partner bei diesem Ansinnen nicht abweisen. Im Gegenteil.
Interviewerin Frau B.:
Ah, Sie erweitern ihr Patientenbild und beziehen die Partner mit ein.
Middeldorf:
Ja, bei einem Paar besteht der Wunsch nach Gemeinsamkeit im Handeln. Diesen Aspekt sollten wir unbedingt mit in`s Kalkül ziehen. Ein gemeinsames Üben wird diesem Wunsch nach Gemeinsamkeit im Handeln gerecht. Doch – das möchte ich hier noch einmal betonen – das funktioniert nur dann zufriedenstellend, wenn das Üben geordnet und professionell begleitet und durchgeführt wird.
Dazu gibt die Therapeutin mündlich und schriftlich klare Angaben hinsichtlich Inhalt und Ziel der Übung, Übungsdauer, Rhythmisierung der Übungssequenzen usw..
Sprachgestörte Patienten und ihre Partner erwarten von Seiten der Therapeuten Übungsideen, Anwendungsvorschläge und eindeutige Anleitungen, wie sie z.B. jüngst in der Therapie gelernte, neue Fähigkeiten in das familiäre Interaktionssystem transferieren können und wie z.B. bestimmte, kompensatorisch eingesetzte Hilfsmittel im Alltag Anwendung finden sollen usw. .
Damit der Transfer, die Überführung neuer Fähigkeiten in die alltägliche Kommunikation erfolgreich funktioniert, muss man gerade schon zu Beginn der Therapie dringend darauf achten, dass die in der Therapiephase „Erarbeitung“ beigebrachten Fähigkeiten in alltägliche Handlungsabläufe integriert werden. Dazu empfehle ich, all jene mobilisierbaren Menschen aus dem privaten Umfeld des Patienten zu aktivieren, bei jedem Beisammensein, z.B. beim gegenseitigen Besuch dem Betroffenen konsequent das aktuelle, therapeutisch erarbeitete Sprachhandeln abzuverlangen.
Interessant ist, dass die Rückmeldungen der Bekannten den Betroffenen dazu bringen, weitestgehend selbstständig eine Neujustierung seiner Sprachproduktion vorzunehmen.
Denn im „Dialog“ mit seiner vertrauten Umgebung lernt er, seine Wahrnehmung der gehörten „Kritik“ zu schärfen, sich viel öfter an das Gelernte zu erinnern und mit größerer Offenheit und mit weniger Scham seine neuen Fähigkeiten in das Gespräch einzubringen.
Sollte der Transfer der beigebrachten Fähigkeiten aus der Therapiephase „Übungen und Anwendungen der erarbeiteten Funktionen in der Therapiesituation“ in die „selbstständige und sichere Anwendung des neu Gelernten“ nicht gelingen, dann sieht sich der Heilmittelerbringer mit Recht der kritischen Frage ausgesetzt, woran das gelegen hat.
Denn das Ziel jeder Sprachtherapie ist im allgemeinen erst dann erreicht, wenn der Patient über recht stabile sprachlich-kommunikative Kompetenzen und Fähigkeiten verfügt und spürt, dass er damit aktiver und zufriedenstellender am privaten, gesellschaftlichen und beruflichen Leben in seinem Sinne teilhaben kann.
Um genau das zu erreichen, bedarf es zur Sicherung des Umgangs mit dem neu Gelernten der gezielten, fachlich angeleiteten Übung und Anwendung.
Und das erscheint mir in der momentanen Sprachtherapie mit erwachsenen Patienten nicht in dem erforderlichen Maß gegeben zu sein.
Der erwachsene Patient sollte dahingehend sensibilisiert und ermuntert werden, auf den „Pfad“ des selbstständigen Übens zu kommen.
Interviewerin Frau B.:
Das bedeutet also, dass nach Ihrer Meinung die Übung in der Therapie verstärkt werden müsste ? Ist das der Grund, warum Sie von einem „neuen Modul“ der Sprachtherapie gesprochen haben ?
Middeldorf:
Genau.
Interviewerin Frau B.:
Da ich noch nicht verstehe, warum Ihnen der Übungsaspekt so wichtig ist, würde ich gern mit Ihnen mehr über die Bedeutung der Übung sprechen.
Middeldorf:
Schön. Nur, das für mich sehr wichtige Thema beansprucht mehr Zeit als die uns jetzt verbleibende Viertelstunde. Ich schlage vor, dass wir uns übermorgen – sagen wir – um 9 Uhr damit befassen.
Interviewerin Frau B.:
Ja gern. Danke sehr.
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