Interview 11: Die Individualität des neuronalen Netzwerks und der Sprachstörungen
Erstellt am 4. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, Sie sagten, dass die Sprachstörung nach einem Schlaganfall immer eine ganz individuelle Störung ist, die in dieser Form bei keinem anderen Menschen noch einmal so vorkommt. Wie kann ich das verstehen ?
Middeldorf:
Das ist auch beim Stottern oder bei der Sprachentwicklungsstörung bei Kindern so. Die Individualität jeder Störung lässt sich grundsätzlich auf die persönliche Nervenstruktur im Großhirn zurückführen.
Um auf Ihre Frage inhaltlich einzugehen, lassen Sie mich zunächst auf den hochkomplexen Bereich des neuronalen Netzwerks zu sprechen kommen. Das neuronale Netzwerk stellen Sie sich bitte als Netz von Nervenfasern vor, was über das Großhirn gestülpt ist.
Wenn das Großhirn arbeitet – und das passiert immer, wenn wir etwas tun – dann schießen durch das neuronale Netzwerk Millionen und Abermillionen von Hirnnervenimpulsen gleichzeitig zueinander und miteinander, aber auch manchmal gegeneinander.
Dieses harmonische Zusammenspiel der Hirnnervenimpulse ermöglicht uns Menschen hochkomplizierte Hirnleistungen zu erbringen, die ihren Ausdruck in jeglichen Formen unseres Handelns und Verhaltens finden. Das sind ja alle Hirnleistungen wie Denken, Bewegen, Wahrnehmen, Fühlen, Sprechen, Kommunizieren, Verhandeln, Sprache verstehen, Lesen, Schreiben usw.
Die Ungestörtheit des Zusammenspiels der Hirnnervenimpulse ist die Voraussetzung für unsere gewohnten und unbehinderten Hirnleistungen.
Jede Schädigung innerhalb dieses fein ausdifferenzierten neuronalen Netzwerks durch Schlaganfall, Hirnblutung, Schädel-Hirntrauma oder Hirn-Operation hinterlässt bei vielen Betroffenen bleibende, sichtbare und hörbare Funktions- und Leistungseinschränkungen, die sich auf das Abgestorbensein bestimmter Bereiche der Hirnnervenleitungen zurück führen lassen.
Interviewerin Frau B.:
Wie kann ich mir das konkret vorstellen ? Was liegt den beobachtbaren Folgen letztlich zugrunde ?
Middeldorf:
Wenn nach der Hirnschädigung bleibende Folgen zu beklagen sind, dann hat das seinen Grund darin, dass in einem bestimmten Areal dieses engmaschigen neuronalen Netzwerks, nämlich dort, wo die Hirnschädigung aufgetreten ist, diverse Hirnnervenzellen – in den meisten Fällen durch Sauerstoffmangel bedingt – abgestorben sind und dass nun die elektrobiochemischen Impulse an diesen Stellen nicht mehr fließen, besser gesagt schießen können. Die durchschießenden Impulse werden an dieser Stelle blockiert. Das neuronale Netzwerk hat dort quasi ein „Loch“ im System. Dieses „Loch im Netzwerk“ können die Nervenimpulse nicht überspringen, sie bleiben dann am „Loch-Rand“ stecken und erreichen weder ihr Ziel noch die gewohnte Kooperation mit den anderen, kooperierenden Impulsen. Das führt global betrachtet meist zum Ausfall einer Reihe von Leistungen im Gehirn und in deren Folge zum Verlust gewohnter Fähigkeiten im Bereich des Handlungs- und Verhaltensmix des Betroffenen.
Als Folgen können neben Einbußen in motorischen und sensorischen Bereichen auch Sprachstörungen wie Störungen des Sprachverständnisses, des Sprechens, des Schreibens und Lesens oder auch sogenannte neuropsychische Minderleistungen wie Konzentrationsschwäche, Wahrnehmungsstörungen, Orientierungsstörungen, Gedächtnisstörungen usw. auftreten.
Dadurch, dass die Nervenleitungen an der geschädigten Stelle nicht mehr durchgängig sind, werden die elektrobiochemischen Impulse an dem „Loch-Rand“ wegen der Unterbrechung der Nervenbahn abgeblockt. Und das führt zu sogenannten „Abrufstörungen“.
Beispiel: Eine bisher gewohnte Handlung ist mir selbstverständlich bewusst. Mir ist i.a. klar, was bzw. wie ich sie auszuführen habe. Doch, auch wenn ich es wollte, ich kann sie dann nicht mehr so wie früher ausführen. Mein Sprechen ist beispielsweise entfremdet, es hört sich schwerfällig an, oder ich kann kaum einen Satz grammatikalisch korrekt sprechen. Oder im schlimmsten Fall bekomme ich kein Wort mehr heraus.
Interviewerin Frau B.:
Verstehe ich richtig, dass es also von der Stärke der Hirnschädigung abhängt, wie viel der Hirngeschädigte an Leistung verliert ?
Middeldorf:
Prinzipiell ja und doch wieder nicht.
Auf zwei wesentliche Faktoren möchte ich aufmerksam machen, die dabei immer mit zu bedenken sind, nämlich einmal, in welcher Region des neuronalen Netzwerks die Schädigung stattfand und zweitens, welche Nervenleitungen in dem geschädigten Gebiet liegen.
Ich muss in diesem Zusammenhang die Entstehung der Individualität des Netzwerks kurz erwähnen.
Jeder Mensch hat ein individuell strukturiertes und arbeitendes Gehirn – auch wenn bei der neurologischen Betrachtungen und dem Vergleich der menschlichen Gehirne anatomische Ähnlichkeiten festzustellen sind.
Schaut man nämlich genauer hin, dann stellt man fest, dass jeder Mensch ein einzigartig ausgebildetes neuronales Netzwerk besitzt. Das findet seine Erklärung darin, dass die Ausentwicklung der Nervenleitungen und deren Aussprossungen maßgeblich durch das bisherige Lernen bedingt ist. Nichts anderes als Lernen führt zum Wachstum von Nervenleitungen im Gehirn. Der eine Mensch lernt mehr, der andere Mensch weniger, der eine lernt auf jenem Gebiet besonders intensiv, der andere auf einem anderen, der eine lernt in seiner Familie, in seiner Schule und Berufsausbildung und in seinem sozialen Umfeld zu leben, der andere unter völlig anderen Umständen.
Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass jeder Mensch in seinem einzigartigen Lebenslauf ganz indivduelle Lern-Erfahrungen gemacht hat und weil er auf seine ureigene Weise in jeder Phase seines Lebens geprägt, sozialisiert und individualisiert worden ist, muss logischerweise das neuronale Netztwerk aufgrund dieser individuellen Lern-Karriere individuelle Besonderheiten haben. Das neuronale Netzwerk ist also individuell geprägt, und dadurch arbeitet es neuronal betrachtet anders als bei anderen Menschen, die ihrerseits individuelle Lernkarrieren aufweisen.
Halten wir fest: Weil Lernen individuell verläuft, ist die neuronale Struktur des Netzwerks als organisches Substrat des Lernens ebenfalls individuell.
Daraus folgt: Aufgrund dieser Individualität des Lernens ist kein Netzwerk im Großhirn so wie ein anderes, obwohl – wie ich schon erwähnte – es anatomische Ähnlichkeiten bis Gleichheiten der Bauweise der Gehirne gibt.
Die neuronalen Feinstrukturen jedoch, die sich im Laufe des Lebens durch Lernen ausentwickeln, generieren z.T. rätselhafte Unterschiedlichkeiten unter den menschlichen Gehirnen. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Nehmen wir an, zwei Menschen würden an der gleichen Stelle des Gehirns nach Ausmaß und Tiefe gleichermaßen operiert, dann sind nicht etwa dieselben Folgeerscheinungen zu beobachten. Nein, es sind durchaus Unterschiede bei beiden zu erwarten – aufgrund der unterschiedlichen neuronalen Vernetzungen in dem operierten Bereich.
Daher ist es verständlich, dass sich bei jedem hirngeschädigten Patienten die Folgen in grundsätzlich individuellen Formen zeigen.
Manchmal sehen die Folgen bei dem einen und bei dem anderen auf den ersten Blick ähnlich aus. Zwei Schlaganfallspatienten haben beispielsweise, neurologisch diagnostiziert, im selben Hirnareal Substanzverluste. Beide zeigen z.B. Verluste im Sprechvermögen. Die sind mehr oder weniger auffällig und im Umgang mit dem Betroffenen für jeden Mitmenschen erkennbar. Wenn man aber näher hinschaut, dann erkennt man, dass sich die Sprach- und Sprechstörungen in Ausmaß und Art deutlich unterscheiden. Der eine zeigt eine Besonderheit, die der andere nicht hat. Der eine zeigt jene Vermeidungsstrategie, über die der andere überhaupt noch nicht nachgedacht hat.
Deshalb spreche ich von der Individualität der Schädigung im neuronalen Netzwerks.
Für den Laien erscheinen Sprachstörungen nach Hirnschädigungen phänomenologisch oft als ähnlich. Schaut bzw. hört man aber genauer hin, dann werden die Unterschiede schnell deutlich. Ein grob schnitzendes Beispiel: Der eine findet die passenden Worte nicht und kann sie deshalb nicht sprechen. Er hat sogenannte „Wortfindungsprobleme“.
Der andere versteht die Fragen nicht, die man ihm stellt und antwortet deshalb nicht.
Ein dritter meint die passenden Worte sprechen zu können und spricht flüssig, aber er gebraucht völlig falsche Wörter, ohne dass er dies merkt.
Jeder der drei aphasisch Betroffenen hat eine eigene Störungsstruktur, mit einer ganz individuellen, unverwechselbaren eigenen Art, damit umzugehen.
Und damit beschäftigen sich die Sprachtherapeuten. Sie arbeiten die individuelle Besonderheit bei dem Patienten heraus und führen dementsprechend gezielte Lern-Therapien durch.
Ich hoffe, ich konnte Ihre Eingangsfrage hinreichend deutlich beantworten.
Interviewerin Frau B.:
Danke. Ich glaube, dass ich es verstanden habe. Und wie sieht das bei den anderen Sprachstörungen, die nicht auf Hirnschädigungen zurückzuführen sind, aus ?
Middeldorf:
Da gelten analoge Erklärungen. Z.B. beim Stottern ist die Sozialisation des Stotternden und seine Individuation – vergesellschaftet mit seinem Sprech- und Sprachleiden – verglichen mit dem eines anderen stotternden Menschen völlig einzigartig.
Da jeder – wie ich vorhin schon sagte – mit seinen ganz eigenen Empfindungen auf die Umwelt reagiert, ganz eigene Motive für bestimmte Aktivitäten hat und höchst eigene Lebensziele entwickelt, ist erklärlich, dass jedes Stottern als ungewolltes, verfestigtes Muster einen chronischen, ganz individuellen Charakter hat.
Kein Stotternder spricht genauso wie der andere. Das sehen wir auch bei allen Nicht-Stotternden. Jeder Sprecher hat einen individuellen Sprach- und Sprechstil.
Wir arbeiten in der Therapie die individuellen Besonderheiten bei jedem stotternden Patienten heraus und führen dementsprechend gezielte Lern-Therapien durch.
Sie werden sich vielleicht wundern wenn ich sage: Der gestotterte Sprechstil ist ersetzbar durch einen anderen Sprechstil, warum, weil der Mensch lernen kann.
Interviewerin Frau B.:
Das hört sich so einfach an.
Middeldorf:
Nun – bitte stellen Sie sich vor, Sie und der stotternde Mensch schlüpfen in die Rolle eines Schauspielers. Sie bekommen die Aufgabe, in einem Bühnenstück die Dialoge in einer bestimmten Mundart zu sprechen. Der Schauspieler lernt das. Er verändert dazu u.U. das gesamte Bild seines natürlichen Sprechstils. Er verändert bewusst seine Sprechweise und verändert seine Sprechmelodie, die Artikulation, Sprechgeschwindigkeit, die Pausen und vieles mehr, was eine solche Sprecherrolle abverlangt.
Sie und der stotternde Mensch könnten das auch, weil Sie die basalen Fähigkeiten des veränderten Sprechens als Kind während Ihrer Sprachentwicklung erlernt haben. Beispiel: Im Spiel Vater-Mutter-Kind wechselten Sie von einer Rolle in die andere.
Der stotternde Mensch ist auch sehr wohl in der Lage, seinen Sprechstil zu verändern. Da ihn aber sein pathologisches Stottersyndrom mit den Primär- und allen Sekundärsymptomen belastet und im Sprechfluss behindert, aus denen er allein und ohne Hilfe kaum herauskommen kann und immer wieder hinein fällt, muss ihm zuerst einmal seine Symptomatik bewusst gemacht werden. Danach lernt er dann neue Wege kennen, auf denen er zu neuen positiven Erlebnissen kommt, z.B. bei der Ausführung einer ganz bestimmten Atemführung oder über eine neu erarbeitete Artikulationsweise oder über einen für ihn neu erlernten Sprechstil. Das kann er verinnerlichen.
Prinzipell lernen so alle sprach-, sprech- und stimmgestörten Menschen ihre Symptomatik zu kontrollieren und zu verändern. Der Aufbau eines alternativen, „gesunden“ Verhaltens ist erlernbar.
Die Sprachtherapie ist dann erfolgreich, wenn sie letztlich immer auf die Individualität des Syndroms des sprach-, sprech- oder stimmkranken Menschen eingeht, Alternativen dazu entwickelt und diese schließlich mit dem Patienten zielstrebig erarbeitet.
Interviewerin Frau B.:
Oh, das waren wieder viele neue Aspekte, die mir überhaupt nicht bewusst waren. Das ist so spannend, dass mir schon wieder viele Fragen einfallen.
Middeldorf:
Darüber können wir ja zu einem anderen Zeitpunkt sprechen. Ich schlage vor, Sie notieren sich Ihre Fragen und legen sie mir dann in mein Fach. So kann ich mir ein Bild davon machen, in welche Richtung unser nächstes Gespräch dann – ich meine übermorgen – gehen wird.
Interviewerin Frau B.:
Ja, das mache ich. Besten Dank. Ich freue mich über Ihre Angebote. Guten Abend !
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