Interview 12: SPRACHTHERAPIE ohne WIRKUNG
Erstellt am 3. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, meine Fragen heute beziehen sich auf das Thema 2 Sitzungen pro Woche.
Middeldorf:
Oh, damit treffen Sie bei mir ins Schwarze. Das ist ein Thema, was mich nicht nur hier im Logozentrum seit 24 Jahren immer wieder praktisch bewegt. Das ist etwas, was mich auch unter gesellschaftlichem Aspekt für sehr wichtig erachte und was mich umtreibt.
Na denn, wie heißt Ihre erste Frage ?
Interviewerin Frau B.:
In einem meiner letzten Interviews sagten Sie, dass etwa 70 % Ihrer Intensivpatienten aphasische Störungen haben. Ich habe mich im Vorfeld unseres heutigen Gespräch weiter mit der Frage beschäftigt, was ich tun würde, wenn mein Partner einen Schlaganfall erleiden würde und ich mich dann nach einer Therapie umsehen müsste. Was nirgendwo gut beschrieben ist, ist die Frage, wo es gute, spezielle und kompetente Beratungen gibt.
Wo grundsätzlich erfahren diejenigen, die unter ihrer Sprachkrankheit leiden, etwas über Therapiemöglichkeiten ? Beim Arzt ? Bei der Krankenkasse ? Im Krankenhaus ? Während der medizinischen Rehabilitation ? In einer logopädischen Praxis ? Oder wo ?
Und gibt es sogenannte Insider-Informationen oder Tipps oder auch Warnungen vor etwas ?
Middeldorf:
Ja, ich hoffe, dass ich Ihrem Ansinnen in der Kürze der Zeit nachkommen kann.
Ich denke es ist angemessen zu versuchen, schlaglichtartig darzulegen, was sich aus meiner Sicht für die aphasisch Betroffenen hinsichtlich therapeutischer Wege als kritisch bis bedrohlich darstellt und was der ergebnisreichen Aphasietherapie dienlich ist.
Es liegt auf der Hand, dass die Angehörigen von schlaganfallsgeschädigten, hirngeschädigten oder schädelhirntraumatisierten Menschen prinzipiell dort fachkundige Beratung und Wegweisung zu erhalten erwarten, wo sie ihre medizinische Rehabilitation nach dem Akutkrankenhausaufenthalt durchführen, also in der nach der Akutbehandlung in der Rehabilitationsklinik.
Jeder Laie geht davon aus, dass er bei Bedarf bei den dortigen Ärzten und Logopäden, vermutlich auch beim sozialpsychologischen Dienst aufgeklärt werden kann.
Man sollte einen Beratungstermin ausmachen, damit bei dem Gespräch Ruhe herrscht und man nicht zwischen Tür und Angel oder auf dem Flur seine Information abruft oder, wie einige unserer Patienten beklagten, auf dem Flur „abgekanzelt“ wird.
Mir wird sehr oft berichtet, dass aphasisch Betroffene in neurologischen Kliniken nicht selten ungenügende oder sogar falsche Beratungen bekommen. Viele Betroffene fühlen sich dort mit ihren existentiellen Sorgen und Nöten allein gelassen. Unwissenheit bei dem Krankheitsbild Aphasie macht konfus. Dann gehen viele Betroffene durch ein Tal der Verzweiflung und des Leidens.
Man sollte darauf Wert legen, dass die Berater Kenntnis haben von modernen Forschungsergebnissen und dass sie nicht über ihr veraltertes Wissen sprechen, z.B. über die nicht mehr gültige 2-Jahres-These – wir sprachen bereits darüber.
Ganz problematisch ist es, wenn man etwa nur eine Privatmeinung eines Reha-Profis zur Aphasietherapie erfährt.
Generell empfehle ich, nach dem medizinischen Rehaaufenthalt in der Klinik sich schnell an eine örtliche ambulante, logopädische Praxis zu wenden und sich parallel dazu einen Neurologen zu suchen und den Hausarzt zu konsultieren. Die Ärzte sind diejenigen, die für ambulante Sprachtherapien die notwendigen Verordnungen ausstellen. Es gibt auch bei manchen Krankenkassen Beratungsstellen.
Oft beklagen die aphasisch Betroffenen, dass sie durch einseitige, oft unzureichende und nicht selten sachlich falsche Auskünfte von ihren Hausärzten und ihren behandelnden Neurologen – sicherlich unbeabsichtigt – zunächst in falsche Richtungen gelenkt werden.
Die Ärzte sollten wissen, dass bleibende Folgeschäden nach Hirnschädigung wie z.B. Aphasie dringendst und schnellstens intensivtherapeutisch behandelt werden müssen.
Und wenn die Angehörigen des Betroffenen merken, dass sie in Richtung nicht-intensive logopädische Behandlung beraten werden, dann sollten sie aufhorchen.
Denn der Betroffene befindet sich kurz nach dem Ereignis in der Spontanremissionsphase, in der grundsätzlich, und das ist state of art, intensivtherapeutisch herangegangen werden muss.
Traurig ist es immer, wenn nach Einleitung einer nicht-intensiven Therapie mit nur 2- oder 3-maligen Sitzungen pro Woche leider sehr viel an Zeit, Kraft und Nerven verloren geht dadurch, dass die Wiederherstellung, die Restitution der Sprache nur schleppend voranschreitet oder gar nicht.
All diejenigen, die auf Suche nach sachgerechten Informationen gehen, z.B. im Internet, werden auf wissenschaftlich basierte Forderungen hinsichtlich Intensiver Aphasiebehandlung stoßen. Das ist durch viele Aspekte begründet. Ich habe das in meinem Aufsatz Schlaganfall – Sprachprobleme – und dann ? auf der Homepage vom Logozentrum Lindlar beschrieben.
Es gibt heute Gott sei Dank reichlich Informationsquellen z.B. in Fachzeitschriften oder im Internet. Dort kann man sich punktuell sachdienliche Informationen herunterladen.
Aber auch Jahre nach dem Ereignis ist Intensivtherapie wirksam. Das ist auch nachlesbar.
Ich muss in diesem Zusammenhang unbedingt darauf hinweisen, dass vielen aphasisch Betroffenen und ihren Angehörigen nicht bewusst ist, dass 2 Therapiesitzungen pro Woche zur Restitution von Sprache ohne Wert sind, wie die Deutsche Gesellschaft für Neurologie in ihren Leitlinien für Aphasietherapie zum Ausdruck bringt.
Andererseits werden aber üblicherweise nur 2 Sitzungen pro Woche von den Ärzten verschrieben. Sie behaupten, sie dürften nicht mehr verschreiben oder sie könnten nicht mehr Sitzungen pro Woche wegen ihres Budgets verschreiben. Wer soll diesen Unsinn verstehen ?!
Das sind völlig sachfremde und patientenunfreundliche Aussagen.
Wie soll also ein Patient oder sein Partner, der der Empfehlung seines verschreibenden Arztes folgt und die Therapiefrequenz von zwei Sitzungen pro Woche als „normal“ hinnimmt und zweimal pro Woche hoffnungsfroh über Monate und Jahre zur ambulanten Sprachtherapie geht, wie soll derjenige spürbare Verbesserungen erleben ? Er spürt sie kaum.
Die Folge davon ist, dass die Betroffenen dann erst einmal an sich selbst zweifeln und ihre aktuelle, wirkungslose Therapiesituation fatalistisch als selbstverständlich hinnehmen, was in Unkenntnis anderer Möglichkeiten sehr verständlich ist.
Neubetroffene sollten also unbedingt wissen: Nur eine intensive Aphasietherapie mit 10 und mehr Sitzungen pro Woche bringt durchgreifende Verbesserungen in der Sprache.
Interviewerin Frau B.:
Ich frage mich, wodurch kommt das ? Da weiß man einerseits, dass 2 Therapiestunden in der Woche ohne Wert sind, wie Sie sagen, und andererseits verschreiben Ärzte nur 2 Sitzungen pro Woche. Was ist das für ein wirkungsloser Irrsinn, der dann auch noch unglaublich viel Geld verschwendet ?
Middeldorf:
Sie sprechen ein ganz, ganz breites Problemfeld an.
Da spielen die aktuellen Regelungen der Therapieverteilung aufgrund der sogenannten Heilmittelrichtlinien eine entscheidende Rolle. Schauen Sie sich die Heilmittelrichtlinien im Internet einmal an. Sie werden keine Angaben etwaiger Höchstgrenzen an Sitzungszahlen pro Woche finden – wohl aber die Mindestzahl 1x pro Woche.
Deshalb kann die Zahl 2 pro Woche aus den Heilmittelrichtlinien meines Erachtens nicht stammen.
Ich vermute vielmehr, dass die Herkunft der Zahl 2 Sitzungen pro Woche aus den 1960ern stammt. In dieser frühen Zeit gab es im Verhältnis zu heute nur wenige Logopäden.
Das sprachtherapeutische Gesundheitssystem war zu jener Zeit im Aufbau. Sprachtherapie war auch nicht das große Thema. Und damals war es in der Praxis generell usus, maximal 2 x pro Woche zu behandeln.
Die Zahl 2 x pro Woche wurde früher im Laufe der Zeit dann zur „Norm“, auch in den Therapien bei anderen Sprachstörungen. Zu 2 Sitzungen pro Woche gab es im Bewusstsein der Mehrheit keine alternative Vorstellung.
Aus heutiger Sicht können wir mutmaßen, dass man noch nicht so weit war darüber nachzudenken, ob diese niedrige Therapiefrequenz etwa zu klein war und Ursache dafür sein konnte, dass viele Aphasietherapien scheiterten oder dass der aphasische Patient nach 2 Jahren ergebnisloser Therapie schließlich mut- und motivationslos deprimiert aufgab und sich sagte: Ich schaffe das nicht.
Zu der Zeit waren Wirksamkeitsstudien noch nicht en vogue.
Die Zahl 2 Sitzungen pro Woche hat sich schleichend nicht nur bei den verordnenden Ärzten im Kopf festgesetzt; die Krankenkassen und ihre medizinischen „Abwehrdienste“, wie ein Patient die Medizinschen Dienste einmal typisierend nannte, waren und sind heute noch auf diese Zahl 2 programmiert.
Als wir 1991 mit der Intensiv-Sprachtherapie mit täglich zwei logopädischen Einzelsitzungen und einer logopädischen Gruppensitzung und mit ein bis 2 Praktikantenübungen begannen, waren 2 Sitzungen pro Woche ambulant üblich, und das ist bei den meisten logopädischen Praxen auch heute noch so.
Die Zahl 2x pro Woche wurde dann im Laufe der Zeit auch zu einer für die Kostenträger idealen Kostenbremse. Mehr als 2 Sitzungen pro Woche kosten die Kassen natürlich mehr. Deshalb muss selbstverständlich jede Abweichung von der „Norm“ aufwändig begründet werden. Der verlängerte medizinische Arm der Krankenkassen, der Medizinische Dienst, lehnte früher 2/3 aller solcher Anträge per se erst einmal ab. Widersprüche wurden früher und werden heute nicht gern gesehen.
Ein weiteres Ereignis betonierte die Zahl 2 pro Woche. Die Budgetierung der Ärzte brachte Unheil für die sprachkranken Menschen insofern, als die Ärzte nun ein Mehr als 2 x pro Woche mit Verweis auf die Budgetierung und dem Hinweis, bei Überschreiten der Budgetgrenzen dann in Regress genommen zu werden, mit „plausiblen“ Argumenten abwehren konnten.
Und das alles führte dazu, dass die Intensiv-Patienten von Anfang an einen riesigen Aufwand betreiben müssen, um in unsere Intensivtherapie zu gelangen.
Heute sieht das Gesundheitssystem hinsichtlich Sprachtherapie etwas anders als vor 50 Jahren aus. Heute werden in Ausnahmefällen und in sogenannten Fällen außerhalb der Regel durchaus mehr als 2 Sitzungen pro Woche verordnet; ich begegne immer mehr angereisten Intensiv-Patienten, die mir berichten, dass sie zu Hause immerhin 3 – 4 Sitzungen pro Woche erhalten. Im Vergleich zu früher eine beachtliche Verbesserung.
Aus welchen Motiven heraus bei vielen verschreibenden Hausärzten und Neurologen eine unsachgemäße Verordnungspraxis anzutreffen ist, können wir nur mutmaßen.
Eine bemitleidenswerte Unwissenheit oder Inkompetenz bei der Beurteilung sprachtherapeutischer Notwendigkeit können es doch wohl nicht sein !
Auch heute, in einer Zeit, in der fast täglich Wirksamkeitsstudien auf den Publikationsmarkt kommen – von denen die meisten belegen, dass die Therapie-Intensität Wirkfaktor Nr.1 in der Sprachtherapie ist – spielen die Krankenkassen mit z.T. haarsträubend begründeten Ablehnungen bei den Intensiv-Therapieanträgen ihrer Kassenmitglieder eine der entscheidendsten Rollen.
Ich lese viele Ablehnungsbescheide mit abstrusesten Argumenten mit verklausulierten Hinweisen auf bestimmte Erlasse, Richtlinien, Verwaltungsvorschriften. Der Bürokratismus treibt seine Blüten. Die Kassen wollen das Kassenmitglied verunsichern. Sie wollen es mundtot machen.
Dabei nimmt man – ich vermute zunehmend bewusst und gegen besseres Wissen – die Unterlassung der Umsetzung der modernen, wissenschaftlichen Erkenntnisse in der sprachtherapeutischen Praxis bewusst in Kauf. Und das meist unter dem Mäntelchen der sogenannten Wirtschaftlichkeit.
Es gibt viele Köche, die den Brei Intensive Sprachtherapie verderben, obwohl dieser Brei das beste Therapieformat für den aphasischen Patienten ist, was sich zur Zeit auf dem Markt befindet.
Frau B., wir können dieses Themenfeld nicht erschöpfend behandeln. Es gibt vieles, was dringend zu verändern ist. Dazu wünsche ich mir grundsätzliche, kritische und ideenreiche Diskussionen mit und in allen gesundheitspolitischen Gruppen und Entscheidungsgremien.
Doch politische Entscheidungen im Gesundheitswesen hinsichtlich dringender Veränderungen hin zu mehr Intensität in der Sprachtherapie benötigen bekanntermaßen sehr viel Zeit. Und diese Zeit haben die leidenden Patienten und ihre Partner nicht!
Interviewerin Frau B.:
Kann denn die Medizin etwas zu einer Verbesserung der Sprachtherapie bei aphasischen Patienten beitragen ?
Middeldorf
Medizinisch prinzipiell nichts.
Zur beraterischen Information gehört, dass wir den hirngeschädigten Menschen mit ihrem nachvollziehbaren Wunsch, wieder so sprechen zu können wie früher, klaren Wein einschenken und ihn dahingehend aufklären müssen, dass durch die Hirnschädigungen sein neuronales Netzwerk stellenweise zerstört ist und dort auch in Zukunft zerstört bleiben wird, weil die abgestorbenen Hirnzellen sich nicht wieder regenerieren.
Die dadurch – bildhaft ausgedrückt – ausgefallenen Fähigkeiten bleiben lebenslang bestehen, wenn nicht intensive Therapie eingeleitet wird, wenn nicht der Patient selbst intensiv arbeitet. Denn nur Intensität im lerntherapeutischen Sinne bietet die Chance, neue Nervenleitungen aufzubauen, die schließlich das Loch im neuronalen Netzwerk sozusagen umfahren. Intensive Therapie macht das deswegen möglich, weil das Gehirn plastisch ist, was bedeutet, dass durch gezieltes therapeutisches Lernen neue Nervenbahnen geschaffen werden können, die prinzipiell – um das „neuronale Loch herum“ – dann die ausgefallenen Funktionen übernehmen.
Dazu müssen sich aber Patient und Therapeut mindestens ambulant 5 bis 10 Mal in der Woche zur Therapie treffen.
Es tut mir in meinen Beratungen immer sehr leid, darauf hinweisen zu müssen, dass uns der Arzt mit Medikamenten, Operationen oder sonstigem in der logopädisch lern- und neuropädagogischen Therapie nicht helfen kann. Der Arzt kann in der Sprachtherapie medizinisch nichts therapeutisch Relevantes verrichten.
Das sprachtherapeutische Lernen ist also kein Aktionsfeld der Mediziner. Es ist das Arbeitsfeld der Sprachtherapeuten.
Wie sich der Arzt sich für seinen aphasischen Patienten sehr nützlich machen kann ist relativ einfach: seinem medizinischen Ethos folgend die notwendigen Therapiekontingente für intensive Aphasietherapie zu verschreiben.
Interviewerin Frau B.:
Ich kann ja nicht begreifen, dass es so etwas gibt ! Es werden offensichtlich hundert Tausende von Euro hinausgeworfen für sogenannte Therapien, die nichts bringen. Welch ein Irrsinn !
Middeldorf:
Sie sprechen mir aus der Seele.
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