Interview 4: Das Alleinstellungsmerkmal des Logopädischen Zentrums für Intensive Therapie Lindlar
Erstellt am 11. August 2015
Interviewerin Frau B:
Herr Dr. Middeldorf, gestern haben Sie über den Gegenwind gesprochen, der anfangs dem Logozentrum Lindlar ins Gesicht blies. Trotzdem hat sich das Logozentrum in den vergangenen 24 Jahren in Deutschland einen Namen gemacht. Womit genau ? Was ist das Besondere an diesem Zentrum ?
Middeldorf:
Zunächst ist die Tatsache zu nennen, dass unser Zentrum von Anfang an ein lern-therapeutisches Zentrum und kein medizinisches Zentrum gewesen ist. Wenn ihm 1991 ein Mediziner vorgestanden hätte, wäre die Entwicklung vermutlich in altbekannte medizinische Formen der Therapie und Krankenhausstrukturen eingemündet. Aufgrund meines pädagogischen Grundverständnisses von Sprachtherapie ist es dazu nicht gekommen. Sprachtherapie ist kein medizinisches Thema.
Interviewerin Frau B:
Der Laie meint aber landläufig – so mein Eindruck – dass Sprachtherapie etwas Medizinisches ist, besonders dann, wenn es sich z.B. um einen schlaganfallsgestörten Menschen handelt, der seine Sprache verloren hat.
Middeldorf:
Diese Annahme ist verständlich, zumal für die Durchführung von ambulanten Sprachtherapien die Ärzte dafür Rezepte ausstellen, wenn die Krankenkassen die Therapien bezahlen sollen. Nein, bei Sprach-, Sprech- oder Stimmtherapien handelt es sich immer um lern-therapeutische Interventionen, von denen heute leider viel zu viele Ärzte viel zu wenig wissen.
Der Fokus der Sprachtherapie ist stets gerichtet auf erwünschte Veränderungen der Sprache, des Sprechens oder der Stimme. Das muss gelernt werden. Deutlicheres oder flüssigeres Sprechen, bessere Wortfindung, besseres Sprachverständnis oder belastbarere Stimmbildung können gelernt werden. Die lern-therapeutischen Interventionen werden in Abhängigkeit von Art, Ausmaß und Struktur der Sprachstörung durchgeführt. Dabei stehen selbstverständlich die vom Patienten formulierten Zielsetzungen und Wünsche im Vordergrund. Aber das geht nicht mit Medikamenten. Insofern ist die Medizin bei der Sprachtherapie – wie es einmal ein Patient treffend formulierte – „am Ende ihres Könnens.“
Alle Menschen sind durchaus in der Lage, sprachliche bzw. sprecherische und stimmliche Veränderungen zu erlernen, insofern können alle sprachlich Betroffenen – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – ihren aktuellen sprachlichen Status verbessern. Früher – in den 1980ern und 1990ern, also noch vor rund 20, 30 Jahren – konzentrierte man sich in der Therapie üblicherweise auf die Beseitigung der auffälligen Symptome. Das Erkrankt-Sein der Funktion sollte beseitigt werden. Das Therapieziel war im allgemeinen die Beseitigung des auffälligen Symptoms.
Diagnosebewusstsein, großes medizinisches Wissen über sprachpathologische Umstände, das Ethos des Helfens und Heilens, einen Fundus an in der Ausbildung gelernten störungsspezifischen Methoden – all das brachten die jungen TherapeutInnen, die in den 1990er Jahren von den Logopädenschulen oder Universitäten zu uns kamen, mit in ihre therapeutische Arbeit. Deutlich wahrzunehmen war deren medizinisches Geprägtsein und das medizinische Denken.
Sprachtherapie war seinerzeit überwiegend symptomorientierte Sprachtherapie, die die sprachliche Erkrankung heilen sollte. Die psychosozialen Umstände des sprachgestörten Menschen und dessen persönlichen Ziele waren zu jener Zeit in der Sprachtherapie kaum Thema.
Die waren für mich vor 30 Jahren aber sehr wohl notwendig, berücksichtigt zu werden, denn jeder sprach-, sprech- und stimmgestörte Betroffene leidet nicht nur unter seinem Symptom, sondern auch unter den sozialen Auswirkungen, die seine Störung hervorruft.
Damals wurden sehr wenig Fragen gestellt hinsichtlich der Interventionen zur Leidensreduktion und Gewinnung der Zufriedenheit mit dem Sprachgebrauch. Doch – das war anfangs bereits für mich ein Grundanliegen jeder Sprachtherapie, einerseits das „kranke“ Sprachhandeln logopädisch so zu behandeln, dass der „Sprachkranke“ Schritt für Schritt funktionelle und sprachgestalterische Verbesserungen erlebt. Sprachtherapie macht letztlich nur dann Sinn, wenn der Betroffene auch lernt, mit den erarbeiteten neuen Fähigkeiten seine sprachlichen Aufgaben im privaten, gesellschaftlichen und beruflichen Leben besser zu bewältigen. Und dazu bedarf auch es auch sozial-psychologischer Interventionen.
Der Zugewinn an Zufriedenheit des Betroffenen mit seiner Anwendung der eigenen Sprachgestaltung, mit dem eigenen Sprechen und dem Gebrauch der Stimme in der Kommunikation mit anderen Menschen ist letztlich das Anliegen meiner Sprachtherapie.
Interviewerin Frau B:
Was waren dann für Sie zu jener Zeit die Konsequenzen ?
Middeldorf:
In diesem Sinne suchte ich – übrigens auch heute noch – ständig nach Wegen, zielführende Antworten zu finden auf die Fragen: Was hilft dem einen Patienten beim Abbau seiner individuellen, sprachlichen und kommunikativen Probleme, was hilft dem anderen am meisten ? Was macht ihn zufriedener ?
Um die Zufriedenheitsgewinnung beim Patienten gezielt angehen zu können, bedarf es über die fachgerechte Symptombehandlung hinaus geisteswissenschaftlich relevanter Herangehensweisen, um zufriedenheitsrelevante Entwicklungsprozesse beim Patienten in Gang zu setzen. Persönlichkeits-, entwicklungs- und lernpsychologische Reflexionen sind dazu angebracht, gepaart mit soziologischen Betrachtungen der Situation des Betroffenen.
Interviewerin Frau B.:
Wie gingen Sie anfangs praktisch vor ?
Middeldorf
Ich hatte früher und habe auch heute eine bestimmte Vorstellung vom Ziel unserer therapeutischen Arbeit.
Um seine bestehende Unzufriedenheit mit sprachtherapeutisch wirksamen Mitteln abzubauen, muss man seinem Symptom zu Leibe rücken und seine Performanz verbessern, andererseits mit einem individuell auf ihn zugeschnittenen Methodenmix seine individuellen Erwartungen relativieren, also seine Expektanz neu justieren und seine Störungsakzeptanz vergrößern.
Das Anliegen meiner Sprachtherapie war und ist, wie ich schon erwähnte, den Grad der Zufriedenheit des Betroffenen mit der eigenen Sprachverwendung zu steigern.
Ambulant war das erfahrungsgemäß in relativ kurzer Zeit kaum erreichbar. Unser intensivsprachtherapeutisches Konzept basiert auf dem uralten Motto: Wer viel tut erreicht auch viel .
Während der ersten Jahre der Intensiv-Sprachtherapie rückten didaktische und methodische Fragestellungen sukzessive in das praktische Therapiegeschehen: Wie können wir es erreichen, dass der Patient seiner ganz persönlichen Zielvorstellung näher kommt ? Welchen Therapieinhalt wählen wir für diesen Patienten, wie gestalten wir das therapeutische Vorgehen bei jenem Patienten ? Wie können wir diesen, unter seinem Sprachstatus stark leidenden Menschen und auch seinem Angehörigen am besten unterstützen ? Welches Angebot hilft dem Patienten am besten, schneller und effizienter dabei, seiner Zielvorstellung näher zu kommen ?
Dazu gehörte auch die Frage: Welche Rahmenbedingungen benötigt der sprachgestörte Betroffene, um weitestgehend effizient an sich arbeiten zu können ? Die örtlichen und räumlichen Rahmenbedingungen in Lindlar schufen 1991 zum ersten Mal den interessierten Betroffenen die Möglichkeit, sich abgeschieden von heimischen Störfaktoren, mit höchster Konzentration und größter Intensität ihrer therapeutischen Lernarbeit über 4 – 6 Wochen nachzugehen.
Schnell lernten wir, dass Intensität ein elementarer Wirkfaktor zur Steigerung der Therapieeffektivität ist. Und damit eng verbunden beobachteten wir, dass damit auch ein wesentlicher Schlüssel gefunden war zur Steigerung der subjektiven Zufriedenheit.
Unsere Intensivpatienten gingen mit der Überzeugung nach Hause, dass die Intensivtherapie in Lindlar das Wirksamste ist, was sie bisher erlebt hatten.
Interviewerin Frau B.:
Es gab ja vorher keine Intensivtherapie. Wie reagierte die Öffentlichkeit ?
Middeldorf
Nun, wie ich Ihnen gestern schon sagte: Der Gegenwind kam uns kräftig ins Gesicht, nicht nur von der Neurologie, auch von dem Berufsstand der Logopäden. Es wurde Kritik hinter vorgehaltener Hand geäußert. „Was machen die in Lindlar mit den Patienten ?“ „Ist es ethisch vertretbar, dass z.B. leidende Schlaganfallspatienten mit Sprachverlust durch die Intensität „in Stress gebracht“ werden, wo sie doch genug Leid erfahren haben ?“ usw.
Man hatte bei dieser emotionalen Abwehrhaltung wohl nur die körperlichen und sprachlichen Funktionsverluste im Blick. Erschreckend war festzustellen – aber auch nach zu vollziehen – dass über die bildgebenden Verfahren sichtbar gemachte Hirnsubstanzverluste zu Urteilen führten wie: Bei so großem Schaden ist nichts an Verbesserung zu erwarten. Früher galt die „Regel“: Starker Substanzverlust = keine Aussicht auf Verbesserung.
Dieses Grundverständnis hat wohl auch zu der lange Zeit hartnäckig verbreiteten neurologischen 2-Jahres-These geführt, die heute als absolut falsch angesehen wird.
Wichtig waren für unser Selbstverständnis die in den 1990er Jahren aufkommenden neuen wissenschaftlichen Informationen aus dem neurobiologischen Bereich, dass das Gehirn plastisch ist. Das heißt nichts anderes, als dass das Gehirn lernfähig ist. Diese damals neuen Erkenntnisse konnten wir im Rahmen unserer Erfahrungsgewinnung in der intensivtherapeutischen Arbeit bestätigt sehen. Denn wir übertrugen die Plastizitäts-These auf geschädigte Gehirne. Wir zeigten, dass selbst schwerst hirngeschädigte Menschen deutliches Lernpotenzial besitzen. Man muss es nur „anzapfen“ und zum Neulernen nutzen.
Dann kam hinzu, dass zu Beginn unserer Intensiv-Sprachtherapie noch keine Studien bei bzw. mit aphasischen Patienten durchgeführt waren und keinerlei Studiendaten zur Verfügung standen.
Wie ich schon erwähnte – in den 90ger Jahren hatte man auch keinen Blick für die seelischen Belastungen, die durch Sprachverlust hervorgerufen werden. Die psychische Dimension des Sprachverlustes endete an dem Punkt der Betroffenheit der Öffentlichkeit.
Man kannte auch keine sprachlichen Fortschritte, die durch intensive Lernarbeit hervorgebracht werden können. Glücksmomente auf Seiten der Patienten wurden eher als unerwartbar und unerklärlich beschrieben.
Man konnte sich wohl auch nicht vorstellen, dass hirngeschädigte, aphasische Patienten leistungsfähig und lern-motiviert sein können.
Die traditionell-konservative Denkrichtung mit der 2-Jahres-These, die aussagte, dass alles, was innerhalb von 2 Jahren nicht wiederkommt, nie mehr zurückkehre, wurden über lange Zeit meines Erachtens auch dadurch genährt, dass noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Literatur sehr Widersprüchliches über die Effektivität von Aphasietherapie aussagte. Die einen Autoren stuften Aphasietherapie als wirksam ein, andere Autoren drückten das Gegenteil aus.
Als die Intensivtherapie Lindlar bekannter wurde, kamen immer mehr Patienten, auch gegen z.T. massiven Widerstand von MDK, Krankenkassen und niedergelassenen Ärzten. Die Effizienz der Intensiv-Sprachtherapie wurde nur in seltenen Fällen bei den Kassen und bei sehr wenig fortschrittlichen Ärzten erkannt.
Der Umdenkungsprozess in Richtung Intensität vollzog sich nicht von heute auf morgen – weder auf Seiten der ambulant arbeitenden Therapeuten noch auf Seiten der medizinischen bzw. neurologisch orientierten Fach-Öffentlichkeit.
13 Jahre nach unserer Eröffnung äußerte sich im Jahr 2004 als erster deutschsprachiger Wissenschaftler, Herr Grötzbach, über die Notwendigkeit von hochfrequenter, also intensiver Therapie. Er forderte bis zu 9 Sitzungen pro Woche.
Seit dem wurden immer mehr Wirksamkeitsstudien bezüglich bestimmter Aphasietherapiemethoden veröffentlicht. Was uns nicht überraschte war die Tatsache, dass jede Therapiemethode nicht etwa auf nichtintensive Weise, sondern vielmehr auf Basis intensivtherapeutischer Settings zur Durchführung kam.
Übrigens: Kürzlich wurde eine über einen Zeitraum von 3 Jahren und bundesweit durchgeführte hochwissenschaftliche Studie mit über 160 aphasischen Patienten abgeschlossen, die belegt, dass Intensivtherapie bei Aphasie wirksamer ist als jede nicht-intensive Sprachtherapie mit weniger als 3 Sitzungen pro Woche.
Wir sehen, dass die Wissenschaft vor rund 10 Jahren begann, sich mit dem Phänomen Wirksamkeit der Aphasietherapie zu beschäftigen und neue Erkenntnisse zu veröffentlichen. Das leitete ein Umdenken in Richtung Intensivtherapie ein. Wie lange die Politik braucht, um die Heilmittelrichtlinien an die wissenschaftlich nachgewiesenen und geforderten Größen anzupassen, das bleibt abzuwarten.
Interviewerin Frau B.:
Ich möchte noch einmal einen Bogen spannen zwischen den 1990er Jahren und heute. Was hat sich bis heute konkret in der Welt der Sprachtherapie verändert ?
Middeldorf:
In den 1990ern gab es kein anderes Sprachtherapieformat als 1 – 2 ambulante Sitzungen pro Woche oder stationäre Therapien in medizinischen Rehabilitationskliniken, wo in vielen Fällen die Sprachtherapie, speziell bei aphasisch Betroffenen – selbst heute noch in manchen Reha-Kliniken – an Intensität zu wünschen übrig ließ. Ich hatte den Eindruck, dass dort die Sprachstörung neben der Bewegungseinschränkung kaum therapeutisch in Betracht gezogen worden ist. Nicht gesprochene Sprache hört man nicht, sie fällt nicht auf – Bewegungseinschränkungen dagegen sind nicht zu übersehen, und daher behandlungsbedürftig.
Wir brachten in den 1990gern den Zufriedenheitsgedanken in die Sprachtherapie. Wir waren demzufolge dem ICF-Paradigma um rund 10 – 12 Jahre voraus. Heute sollte in allen Heilbehandlungen, ob medizinisch, logopädisch, physiotherapeutisch oder ergotherapeutisch das ICF-Paradigma grundsätzlich überall Anwendung finden. Damit wird das jeweilige Patienten-Ziel zum therapeutischen Regulativ.
Über die am häufigsten zu hörenden Antworten auf die allgemeine Frage, was der der Patient anziele, brauchten wir uns nicht zu wundern. Der aphasische Mensch sagt: Wieder sprechen können, der stotternde Mensch sagt, endlich flüssig sprechen können, der Stimmgestörte sagt, endlich ungestört und beschwerdefrei meine Stimme benutzen können.
Wir stell(t)en weitere Fragen: In welchen Situationen wollen Sie besser sprechen können ? Oder: Wozu und warum ist Ihnen das wichtig ? Oder: Was wollen Sie mit dem besseren Sprechen erreichen ?
Wir bekamen die unterschiedlichsten Antworten. Und weil wir als Sprachtherapeuten auf diese unterschiedlichen Zielvorstellungen individuell eingehen wollten, mussten wir – therapeutisch wohlüberlegt – neue, therapierelevante Wege einschlagen.
Wir fragten uns: Was müssen wir geschafft haben, damit die Patienten vorläufig oder hinreichend zufrieden sein können ? Oder: Wie kommen wir in unserer Arbeit mit ihnen zu ihrem Zielverhalten ? Was müssen wir dafür tun ? Welche Therapieinhalte sind das Mittel der Wahl ? Oder: Wie können wir die sozial-kommunikativen Bedingungen zu Hause verbessern, z.B. die familiäre Kommunikationssystematik ? usw.
Wir erprobten unterschiedliche Konzepte. Wir führten mit den Patienten täglich über die zwei Einzelsitzungen hinaus dreimal und viermal pro Tag Einzeltherapie durch. Je nach Schwere und Ausmaß des pathologischen Syndroms und je nach Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit des einzelnen Patienten wurden dann die Tagesfrequenzen festgelegt.
Es erfolgte im Logozentrum ein differenzierter Ausbau der stationären, intensiven Sprachtherapie inhaltlich, methodisch wie auch organisatorisch.
Wir luden z.B. alle mitangereisten Partner ein, bei der Therapie anwesend zu sein. Das ist für viele auch heute noch eine unglaubliche Tatsache, weil sie anderswo nur äußerst ungern in den Therapiesitzungen gesehen werden. Hospitationen der Patienten-Partner sind in unserem Hause eine Selbstverständlichkeit.
Transparenz schaffen, informieren, beraten, auf Notwendigkeiten hinweisen – das waren und sind Kernaufgaben in einer patientenorientierten, effizienten Therapie.
Interviewerin Frau B.:
Können Sie mir über weitere Details berichten, die sich im Laufe der Zeit entwickelten ?
Middeldorf
Gern. Ich sagte schon einmal, dass wir unsere Erfahrungen recht schnell als ein beglückendes Geschenk empfanden, denn in der Intensiv-Therapie konnten wir 1991 zum ersten Mal am Stück über 5, 6 Wochen kontinuierlich mit einem Patienten gezielt, ehrgeizig und ergebnisorientiert arbeiten.
Wir konnten schubartige Entwicklungen auch in Fällen von Stottern, Stimmstörung, Sprachentwicklungsstörung und anderen Störungen durch lerntherapeutische Arbeit beobachten.
Die neurowissenschftlichen Erkenntnisse aus dem Jahrzehnt des Gehirns, in den 1990er Jahren, regten uns an, im intensiv-sprachtherapeutischen Handeln nun auch „neuropädagogische Begründungszusammenhänge“ zu suchen.
Vorher basierte unser therapeutisches Vorgehen vorwiegend auf gesicherten Erkenntnissen der Lernpsychologie, der bekannten Therapiemethoden und auf sozialwissenschaftlichen Methoden wie Beobachtung, Interview und Tests.
Auch wenn wir über lange Jahre hinweg – aus praktischer Unerfahrenheit heraus – unter neuropädagogischen Aspekten in der konkreten Intensivtherapie quasi „im Trüben fischten“, wir wurden von Jahr zu Jahr bestärkt in der Gewissheit, dass alle unsere Intensivpatienten durch unseren patientenorientierten, zunehmend auch neuropädagogischen Therapieansatz deutlich profitieren.
Wir waren sehr darauf bedacht, die Therapieergebnisse so zu dokumentieren und zu beschreiben, dass die z.T. sehr überraschend guten Resultate für unsere Patienten und für die verschreibenden Ärzte nachvollziehbar werden konnten. Die Gesamtberichte zeichneten sich bald durch zunehmende Differenziertheit der Ergebnisdarstellungen aus.
Interviewerin Frau B.:
Haben Sie denn in den frühen Jahren Ihres Zentrums daran gedacht, diese großartige Erneuerung in der Sprachtherapie zu publizieren ?
Middeldorf:
Die Frage ist sehr berechtigt.
Das hätten sogenannte Wirksamkeitsstudien sein müssen, die hätten zeigen sollen, dass die Intensiv-Therapie effektiver ist als Nicht-intensive Therapie.
Ich hätte das gern getan. Doch offen gesagt, uns fehlte erstens der dafür erforderliche wissenschaftliche Apparat im Hintergrund, zweitens fehlten uns die finanziellen Mittel, um aufwändige Forschung in diesem weiten Themenbereich zu betreiben und drittens, auch wenn wir Unterstützung von unserem Förderverein bekommen hätten, wir hatten einfach nicht die Zeit zu forschen, denn diese Zeit mussten wir in die Therapie investieren, von der wir nun einmal leben.
Etwa Mitte der 2010er Jahre kam eine einzige Studentin der Logopädischen Fachhochschule Nijmwegen zu uns und machte eine Studie für ihr Examen, in der sie den Unterschied der Therapiewirksamkeit von ambulanter, nicht-intensiver Aphasie-Therapie und der Lindlarer Intensivtherapie erforschte.
Ich hatte gehofft, dass die Praktikums-Studenten von der Universität Köln, von anderen Unis und von den Logopädenschulen, die uns von Anfang an besuchten, auch Interesse an Untersuchungen entwickelt hätten, zumal ja bei uns ein breit gefächertes Klientel zur Verfügung steht. Doch was ihre Examensarbeiten anbelangte: Zu jener Zeit neigten sie eher zu Literaturarbeiten, kaum zu empirischer Arbeit. Heute führen sie zunehmend mehr statistisch-empirische Untersuchungen über spezielle Therapiemethoden durch oder sie erstellen primär Einzelfall-Beschreibungen.
Interviewerin Frau B.:
Was kam bei der Untersuchung der holländischen Studentin heraus ?
Middeldorf
Intensiv-Therapie wurde als wirkungsvoller beschrieben. Es war für uns damals großartig zu sehen, dass unsere eigenen, aus der praktischen Arbeit heraus gewonnenen Erkenntnisse nun auch von wissenschaftlicher Seite im Grundsatz bestätigt wurden.
Vielleicht ist es für Sie interessant zu wissen, dass wir trotz des Mangels an wissenschaftlichen Ressourcen doch kleine, hausinterne Projekt-Studien auf die Beine gestellt haben.
Darüber kann ich Ihnen vielleicht an anderer Stelle berichten.
Interviewerin Frau B.:
Ja, sehr gern. Doch an dieser Stelle würde ich gern noch mehr über das Alleinstellungsmerkmal Lindlars hören.
Middeldorf
Nun – jeder, der sich als Interessierter oder als Betroffener über Sprachtherapie informiert, sollte sich im Klaren sein, dass Sprachtherapie – gleichgültig bei welcher Diagnose und unter der Erwartung, dass sie über 4 – 5 Wochen evidente Ergebnisse hervorbringen soll – in allen Fällen ein hohes Maß an Konzentration und Lern-Einsatz über einen doch recht langen Zeitraum verlangt.
Es liegt grundsätzlich im Ermessen eines jeden Betroffenen, selbst zu entscheiden, bei welcher Sprachtherapeutin er die Sprachtherapie wahrnehmen möchte, ob zu Hause ambulant oder in einer auf bestimmte Störungen spezialisierten Einrichtung. Wir haben zur Zeit noch Therapeutenwahlfreiheit.
Wenn sie sich für Lindlar entscheiden, dann meist deshalb, weil wir uns eben spezialisiert haben auf Intensität in der Sprachtherapie bei allen Sprachstörungen, bei Aphasie, Dysarthrie, Stottern, Stimmstörung, Sprachentwicklungsstörung. Das ist ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal – natürlich auch das innovative Intervall-Konzept
Das ist als neuropädagogisches Konzept meines Wissens einmalig im deutschsprachigen Raum.
Interviewerin Frau B.:
Mit welchen Erwartungen kommen die Patienten zu Ihnen nach Lindlar ?
Middeldorf:
Die Antwort liegt auf der Hand. Sie wollen sich aus ihrem sprachlichen Dilemma befreien. Die meisten neuen Patient kommen aber mit diffusen Vorstellungen von Therapiegestaltung und Zielerreichung zu uns, andere ohne ein verbalisierbares Ziel.
Es ist vieles anders bzw. neuartig für den Patienten, wenn er zum ersten Mal zu uns kommt.
Eine wichtige Aufgabe besteht für uns zunächst darin, den neuen Patienten und ihren sie begleitenden Partnern bzw. Angehörigen – selbstverständlich mit der gebührenden Freundlichkeit und dem notwendigen Respekt – sie über die realistischen Möglichkeiten der Intensiv-Sprachtherapie aufzuklären, mit der Andersartigkeit der Therapiekonfiguration in Lindlar bekannt und vertraut zu machen und die Befürchtungen mancher Angehöriger zu zerstreuen, man könnte den Patienten überfordern.
Im Zusammenhang mit der Belastbarkeit kann ich nach 24jähriger Erfahrung im Umgang mit Intensiv-Patienten sagen, dass sich nur diejenigen Patient überfordern, die ihre körperliche, kognitive und psychische Leistungsfähigkeit maßlos überschätzen und die Ermüdungssignale nicht wahrnehmen oder diese sträflich missachten. Ich kann Ihnen versichern, dass wir diese Signale gut erkennen und dann nach Aussprache mit dem Patienten den Therapieplan so gestalten, dass „Überforderung“ wie beispielsweise Ermüdung nicht mehr eintritt.
Das therapeutische Klima im Rahmen des Lindlarer Therapieformats ist geprägt durch ein tiefes Verständnis der Therapeuten für den Patienten. Das findet seinen Ausdruck in dem Aufbau eines guten und vertrauensvollen Verhältnisses zwischen dem Patienten und seinen behandelnden TherapeutINNen. Man lernt den Patienten so gut kennen, dass Hochs und Tiefs im Lernverhalten recht bald gespürt werden und worauf dann sensibel reagiert wird.
Ein enges Therapeut-Patient-Verhältnis verhindert einerseits eine Überforderung des Patienten. Und genau dieses besondere Verhältnis ermöglicht andererseits aber auch das Erkennen und Ausschöpfen der vorhandenen und sichtbaren Ressourcen des Patienten.
Wir fordern den Patienten zum intensiven Lernen heraus, weil er genau das bei uns sucht.
Die Tagesstruktur mit 5 – 6 Therapiesitzungen verlangt neben der konzentrierten Anstrengung auch Raum zur Regenerierung. Die ermöglichen wir, auch wenn das oft eine therapieplanerische Herkulesaufgabe darstellt.
Jeder Patient hat sich nach ca. 1 Woche in den Lindlarer Lernrhythmus eingefunden. Dann durchläuft er das gesamte, vorgesehene Programm.
Individualität in der Therapiegestaltung rangiert wegen der Individualität einer jeden Sprachstörung und wegen der individuellen Bedürfnisse eines jeden Patienten an oberster Stelle.
Wir arbeiten zuerst gezielt an den am schwersten betroffenen Störungsbereichen; dabei berücksichtigen wir neben der auffälligsten Symptomatik selbstverständlich auch seinen sozio-kulturellen Status, der sich aus der Biografie ergibt.
Nicht wenige Sprachstörungen – vor allem die nach Hirnschädigung – treten meist vergesellschaftet mit anderen Funktionsdefiziten wie Lähmungen auf, die bei Indikation von unserer ergotherapeutischen und der physiotherapeutischen Abteilung unseres Hause interdisziplinär mit-behandelt werden.
Über die störungsspezifischen, diagnostizierten Symptom-Daten hinaus explorieren wir ICF folgend selbstverständlich die vor einigen Minuten bereits angesprochenen personenbezogenen Daten. Hochinteressant sind die patienteneigenen Interessen des Patienten, die Informationen zu seinen persönlichen und persönlichkeitsspezifischen Besonderheiten, zu seinen Vorlieben, zu den prämorbiden individuellen und sozialen Vorlieben, zu seiner Persönlichkeitstruktur, zu seinem sozialen Umfeld usw., usw.
Aufgrund der Kenntnis von diesen sozio-biografischen Informationen zu dem uns gegenüber sitzenden „Menschen als Patient“ können wir didaktisch und methodisch recht genau in der Therapiesitzung auf seine Interessensebenen, seine geistigen Fähigkeiten und auf seine Erwartungen an die therapeutische Interaktion eingehen.
Auch daraus baut sich in den meisten Fällen eine verständnisvolle, partnerschaftliche Patient-Therapeuten-Beziehung auf, die dem Patienten den fachkompetenten Partner Therapeut und die andererseits dem Therapeuten den lernbereiten Patienten liefert.
Insofern haben beiden den gemeinsamen Auftrag und verfolgen beide das gemeinsame Ziel, in der zur Verfügung stehenden Zeit deutliche, für die Außenstehenden hörbare und sichtbare und für den Patienten spürbare und überzeugende Lernergebnisse zu erzielen.
Praktisch gelingt das in der Tat dadurch, dass bei uns im Logozentrum Lindlar jeder Therapeut täglich seine fünf bis sechs Patienten kontinuierlich mindestens einmal täglich behandelt. Es wird von den Patienten wertgeschätzt, dass zwei, auch drei Sprachtherapeuten des Logopädenteams über die gesamte Aufenthaltszeit mit ihnen arbeiten.
Therapeutenkonstanz ist ein eisernes Prinzip, was wir grundsätzlich einzuhalten gedenken.
Der Vorteil unseres Pools von 14 hochspezialisierten Sprachtherapeuten ist, dass sich jeweils 2, 3 Therapeuten unter der Führung eines Bezugstherapeuten zu einer Therapeutengruppe zusammenfinden, die dann mit einem Patienten während des gesamten stationären Aufenthalts arbeiten.
Dabei therapiert jeder diesen gemeinsamen Patienten in verschiedenen Therapiethemen – intern gut koordiniert.
Die an einem Patienten gemeinsam arbeitenden Therapeuten tauschen sich kontinuierlich hinsichtlich des aktuellen Status des gemeinsamen Patienten aus.
Unsere Intensivpatienten erhalten eine Bezugstherapeutin an ihre Seite gestellt. Die kümmert sich um das allgemeine Wohlergehen ihrer Patientin bzw. ihres Patienten. Sie hilft ihr bzw. ihm mit Rat und Tat.
Das ist also auch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal unseres Hauses: Unsere SprachtherapeutINNen stehen aufgrund ihrer fachlichen Spezialitäten gruppenweise für die jeweiligen Sprachstörungsbilder zur Verfügung.
So sind wir in der Lage, Patienten mit allen unterschiedlichen Sprachstörungsbildern bestqualifiziert zu behandeln.
Das Leben in unserem Haus läuft – wie die Patienten rückmelden – sehr familiär ab. Das ist nicht nur erklärlich aufgrund des kommunikativen Geistes, der hier gelebt wird, sondern im Wesentlichen aufgrund der Kleinheit unseres Zentrums.
Die ca. 30 Intensivpatienten lernen sich schnell untereinander kennen. Sie kommunizieren unter- und miteinander und pflegen auch private Kontakte.
Zusammenfassend möchte ich Ihre Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal mit folgender definitorischen Beschreibung abschließend beantworten:
Der Patient lebt über einen gewissen Zeitraum in einem nichtmedizinischen Zentrum, in dem er gezielte, ehrgeizige und erfolgsorientierte lernpädagogisch-sprachtherapeutische Therapie von hochspezialisierten Therapeuten in höchstmöglicher Häufigkeit bekommt, auf die der Patient seinerseits mit einer hohen Motivation, ehrgeizig und erfolgsorientiert mit großem Einsatzwillen eingeht.
Während seines Therapieaufenthalts erlernt der Patient neue sprachliche Fähigkeiten. Er lernt diese teilhabeorientiert anzuwenden. In hochfrequent durchgeführten Übungsprogrammen vertieft er das Gelernte. Alle Patienten und Partner werden dahingehend angeleitet, im Anschluss an Lindlar zuhause das Gelernte im kommunikativen Alltag anzuwenden und sich in der ambulanten Therapie von seiner Therapeutin weiter beraten und fördern zu lassen.
Interviewerin Frau B.:
Ich bin es gewohnt, dass ich, wenn ich als Patient zum Arzt gehe, ein gehöriges Gefälle zwischen ihm und mir empfinde. Das scheint bei Ihnen in Lindlar zwischen Therapeut und Patient offensichtlich nicht so zu sein ?!
Middeldorf
Nun, dass wir Therapeuten einen fachlichen Wissens- und Kenntnisvorsprung gegenüber unseren Patienten haben liegt in der Natur der Sache.
Das heißt aber nicht, dass wir unsere Fachkompetenz in arrogant wirkender Weise zum Ausdruck bringen. Wir zeigen dem Patienten unser therapeutisches Können in Form eines fachlich strukturierten Therapie- und Sitzungsaufbaus mit patientenadäquater Vorgehensweise, konkretisiert in einem freundlich zugewandten und respektvollen Dialog.
Das Patienten-Lernverhalten wird permanent beobachtet. Welche Stimmung bringt der Patient mit in die Sitzung ? Welche Schwächen zeigt er momentan ? Wie geht er jetzt auf das neu zu Lernende ein ? Wie schnell oder wie langsam setzt er das jetzt um ? Hat er die Aufgabe von gestern durchgearbeitet ? Was steht ihm als gesichertes Können mittlerweile zur Verfügung ? Wo erweist er sich immer noch als leistungsschwach ? usw.
Die Bereitschaft und Fähigkeit des Patienten, sich mit den therapeutischen Inhalten auch selbst zu befassen, fördern wir durch viel Er- und Aufklärung, durch verständliche Beschreibung des momentanen Arbeitsanliegens und des Zusammenhangs zwischen dem gerade aktuellen Tun und den gesetzten Funktions-, Aktivitäts- und Teilhabezielen.
Wir wollen dem Patienten so viel wie möglich in der uns zur Verfügung stehenden Zeit beibringen. Dazu soll er viel verstehen und üben können.
Zur Steigerung seiner Motivation und seines Selbstwertgefühls werden dem Patienten immer wieder seine Fortschritte beschrieben – verbal oder via Video. Die positiven Rückmeldungen durch die Therapeuten steigern die Zuversicht beim Patienten.
Die Gemeinsamkeit des Strebens nach neuem Können des Patienten zeigt diesem die Authentizität des Bemühens der Therapeuten. Das Erkennen, dass der Therapeut sich engagiert und in seinem Gesamtverhalten konsequent auf sein ienten-Ziel ausrichtet, das bringt den lernenden Patienten auf gleiche Augenhöhe mit dem Therapeuten.
Dazu passt ein Bild: Der Therapeut sitzt mit dem Patienten in einem Boot. Dieses Bild stimuliert das lerntherapeutische Klima positiv.
Interviewerin Frau B.:
Dr. Middeldorf, ich komme heute zu meiner letzten Frage: Auf wie viel Intensivtherapien schauen Sie zurück ?
Middeldorf:
Oh, die präzise Zahl von heute habe ich nicht im Kopf. Aber ich weiß, wir hatten vor 5 Jahren die Zahl von 5.000.
Ich schätze, dass wir heute, Anfang 2015, bei 6.500 liegen dürften.
Interviewerin Frau B.:
Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen zum Themenkomplex Alleinstellung des Logopädischen Zentrums Lindlar.
Middeldorf:
Und ich danke Ihnen für Ihr Interesse.
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