Interview 7: Sprachstörungen
Erstellt am 8. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, Sie haben gestern die Bedeutung der Sprache für uns und unser Leben angesprochen. Die Konsquenzen, die durch eine Störung der Sprache hervorgerufen werden können, kann ich mir eigentlich nur grob vorstellen. Ich möchte mehr darüber erfahren.
Was gibt es alles an Sprachstörungen ? Mir fällt jetzt spontan ein ehemaliger Mitschüler ein, der stotterte.
Middeldorf:
Ja, eine Sprachstörung bezeichne ich kurz als auffällige Abweichung von der sprachlichen Norm. Sprachliche Normabweichungen können im Sprachverständnis, beim Lesen, im Schreiben und Sprechen, in der Stimmbildung, im Sprechrhythmus oder im Gebrauch des Wortschatzes oder auch im Satzbau auftreten.
Solche Normabweichungen nennen wir dann Störungen der Sprache, wenn im Sprachsystem irgendwelche Auffälligkeiten in Erscheinung treten, die sich nicht durch korrigierende Hinweise beseitigen lassen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein erwachsener Mensch nach einem Schlaganfall Auffälligkeit bei der Wortfindung zeigt und z.B. falsche Wörter gebraucht, oder wenn er beim Satzbau grammatikalische Fehler produziert oder wenn er Probleme beim Lesen hat und das Gelesene nicht versteht. Dann heißt es für die Angehörigen, mit dem Betroffenen die Logopädin aufzusuchen, um sich mit der „inneren“ Sprachverarbeitung zu beschäftigen.
Störungen des Sprechens liegen dann vor, wenn die hörbaren Sprechprodukte normabweichend klingen, beispielsweise ungenaues Lautieren eines /SCH/ in allen Positionen oder ein nasaler Klang während des Sprechens.
Störungen der Stimme liegen dann vor, wenn die hörbare Sprechstimme normabweichend klingt, beispielsweise über einen längeren Zeitraum heiser oder dünn. Mit Stimmstörung bezeichnet man auch versteckte Phänomene, z.B. wenn die Stimme im Laufe des Gebrauchs schwach und schwächer wird oder wenn über eine längere Zeit ein Räusperzwang herrscht.
Nun, weil das Feld der Sprachstörungen sehr breit gefächert ist, ist es sinnvoll, diese in 5 Gruppen einzuteilen, wobei wir von der Lokalisation und der Ursachenproblematik ausgehen.
Weil ich ja wusste, dass Sie auch über Sprachstörungen näheres hören wollen, habe ich aus einem meiner Skripte einen Ausschnitt mitgebracht. Das hilft sicherlich, das ganze Thema zu systematisieren und dadurch die Sprachstörungsformen besser einordnen zu können.
Interviewerin Frau B.:
Oh ja, das ist nett.
Middeldorf:
Da haben wir die
- Neuronal bedingten Sprachstörungen, die ihre Ursachen in hirnorganischen Schädigungen oder Nervenerkrankungen haben durch z.B. Schlaganfall, Hirnbluten oder Hirnoperationen; das sind z.B. Aphasie (Sprachverlust) und Sprechapraxie (Verlust der Lautbildungsfähigkeit) oder Dysarthrie (zentrale Sprechlähmung), nicht selten auch vergesellschaftet mit Schluckstörungen (Dysphagie), oder zentral-neurogene Stimmstörungen mit z.B. Kontrollverlust bezüglich Sprechstimmführung bei starker Monotonie beim Sprechen.
Durch Fehlentwicklungen und Fehlgewohnheiten werden die sogenannten
- Funktionellen Sprach- und Stimmstörungen hervorgerufen, die als Folgen von sprachlich-sprecherischem, hochfrequentem Fehlverhalten, wir sagen auch pathologischem Fehlverhalten Zu nennen sind funktionelle Stimmstörungen (Dysphonie) mit Stimmschwäche, Heiserkeit, geringer Belastbarkeit usw., aber auch das Stottern, was nicht angeboren ist, sich aber in den meisten Fällen im Kindesalter während der Sprech- und Sprachentwicklung aus einem gestockten Entwicklungs-Sprechen mit Iterationen zu einem massiveren Stottern entwickelt. Ähnlich verhält es sich beim sogenannten Poltern. Dabei ist die Sprechgeschwindigkeit so schnell, dass sich ein Überschlagen beim Sprechen zeigt, was die Verständlichkeit des Gesprochenen erheblich einschränkt.
Psychische Unordnung kann in den Menschen durchaus sogenannte
- Psychogene Sprachstörungen hervorrufen, die ursächlich psychische Auslöser haben. Zu nennen wäre z.B. der Mutismus (Schweigen), bei dem Mensch nicht in der Lage ist zu sprechen, obwohl die Sprache und das Sprechen voll ausgebildet ist, oder die psychogene Dysphonie (Stimmstörung), bei der der Stimmträger beim Sprechen keine Stimme heraus bekommt, obwohl sein Stimmorgan (Kehlkopf, Stimmbänder) funktioniert. Da das Stottern als Sprechkoordinationsstörung eng verwoben ist mit negativen sozial-kommunikativen Erfahrungen und Erlebnissen, reihe ich das Syndrom Stottern dann auch unter die psychogenen Sprachstörungen, wenn das Symptom besonders in psychisch dramatischen, angstauslösenden Interaktionen den Sprechfluss negativ dominiert.
Bei Kindern haben wir es nicht selten mit
- Sprachentwicklungsstörungen (SES) zu tun, bei denen Entwicklungslücken im Bereich des Sprachverständnisses, des Wortschatzes, der Grammatik und der Lautbildung zu diagnostizieren sind. Die sind auf körperlich-neurologische Ursachen zurück zu führen, oft aber auch auf mangelhafte Sprachmodelle während der kindlichen Sprachentwicklung. In sogenannt „leichten“ Fällen sprechen wir von verzögerter Sprachentwicklung.
Verletzungen oder Anomalien können zu
- organisch bedingten Sprech- und Stimmstörungen führen, wie z.B. zu schweren Aussprachefehlern (organisch bedingte Dyslalie) oder zu organisch bedingter Stimmstörung z.B. in dem Falle, dass ein Stimmband operativ entfernt werden musste (organisch bedingte Dysphonie).
Darüber hinaus gibt es Mischformen aus all diesen Erscheinungen.
Über die im Logo-Zentrum Lindlar zahlenmäßig mit ca. 70 % am häufigsten auftretende neuronal bedingte Sprachstörung, die Aphasie, habe ich ausführlicher auf www.logozentrumlindlar.de geschrieben.
Liebe Frau B., nach meinem Eindruck würde es unseren Gesprächsrahmen sprengen, wenn wir uns nun ausführlich mit jeder Sprachstörung beschäftigen.
Deshalb schlage ich vor, dass Sie die Ausführungen zu den verschiedenen Sprachstörungen auf der Internetseite des Logozentrums lesen.
Wenn Sie dann nach Ihrer Lektüre Fragen haben, dann sprechen wir – wenn Sie möchten – selbstverständlich darüber.
Interviewerin Frau B.:
Sehr gern.
Sie sagen, Sprachstörungen lassen sich therapieren. Ich habe die Vorstellung, dass die Logopädin einem Patienten hilft, den „Fehler“ zu beseitigen.
So wie ich Sie verstanden habe, kann das aber nicht alles sein ! Mich würde interessieren, welches Therapieverständnis Sie haben.
Middeldorf:
„Therapie“, aus dem Altgriechischen, bedeutet ursprünglich “Dienst, Pflege, Heilung“.
Und „Heilung“ bezeichnet den Prozess der Herstellung der körperlichen und seelischen Befreiung aus einem Leiden.
Während der Heilungsbegriff etymologisch eher durch ein „Ganz-Werden“ bestimmt ist, schwingen bei heutigen Begriffen wie Sprachtherapie oder Sprachheilbehandlung immer auch klassische Heilungsbegriffe mit wie „restitutio“, die Wiederherstellung oder „reparatio“, die Defektbeseitigung bzw. -heilung.
Der Begriff Sprachtherapie umfasst nach meinem Verständnis all jene Maßnahmen, die dem Heilungsgedanken folgend die Herstellung und Wiederherstellung von sprachlicher Kompetenz und die Defektheilung im sprachlich-funktionellen Sinne verfolgen.
Ich verstehe Sprachtherapie als Maßnahmenbündel, was heilende Prozesse im Patienten einleitet und begleitet, mit dem Ziel der Linderung und Beseitigung der sprachpathologischen Symptome. Die daraus resultierende sozialpsychische Problematik, die den Sprachgestörten belastet, gehört darüber hinaus behandelt. Das gilt besonders für z.B. jeden aphasischen, stotternden oder stimmgestörten Menschen, der unter seinem Syndrom leidet und deshalb die Therapie aufsucht.
Ich verstehe Sprachtherapie einerseits als Anbahnung und Ausentfaltung sprachlicher Funktionen, Fähigkeiten und Kompetenzen, was besonders für die Kinder gilt, die die Entwicklung ihrer sprachlich-kommunikativen Zukunft vor sich haben.
Ich sehe andererseits Sprachtherapie darüber hinaus als Arbeitsfeld zum Neuaufbau von durch Unfall oder Erkrankung verloren gegangenen Sprachfunktionen. Dabei ist über die Symptombehandlung hinaus die Wiederherstellung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen im Umgang mit der Familie, mit Freunden und mit der Öffentlichkeit vonnöten, die in enger Abstimmung mit den individuellen Zielen des Patienten erfolgen muss.
Letztlich ist die Aufgabe der Therapie, die Entwicklung bzw. den Wiederaufbau der Zufriedenheit des Patienten mit seiner sprachlich-kommunikativen Interaktionsfähigkeit zu erreichen.
Interviewerin Frau B.:
Oh ja, das notiere ich mir sofort.
Sie sprachen eben den Partner des Patienten an, der sich kundig macht durch Hospitationen.
Ist es nicht problematisch, wenn der Ehepartner eines aphasisch Betroffenen oder der Vater eines Kindes sich zum Coach aufschwingt und üben will ? Ich hatte früher zeitweise überhaupt keine Lust zu lernen, wenn mein Vater mit der Idee kam, mir nun endlich etwas erklären zu müssen.
Middeldorf:
Oh, Üben und Übung, das ist eine wirklich wichtige Thematik.
Üben erfordert genügend Zeit – das ist ein Kapitel, was in der Sprachtherapie ein Schattendasein führt. Wenn Sie einverstanden sind, dann würde ich gern darüber zu einem anderen Zeitpunkt sprechen.
Interviewerin Frau B.:
Gern. Ich würde Sie gern übermorgen aufsuchen. Ich habe noch viele Fragen auf meiner Liste stehen.
Middeldorf:
Ok, halten wir 17:30 Uhr fest.
Interviewerin Frau B.:
Sehr gern, danke.
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