Interview 9: Sprachtherapeutisches ÜBEN ist notwendig !
Erstellt am 6. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, vorgestern sagten Sie, dass nach Ihrer Meinung die Übung in der Therapie verstärkt werden müsste. Warum ?
Middeldorf:
Wie sieht es denn in der realen Therapiewelt aus ? Am Ende der logopädischen Sitzung hören die Patienten nicht selten von ihren Therapeutinnen und Therapeuten: Und das üben Sie bitte zu Hause bis zum nächsten Mal. Oder: Dieses Arbeitsblatt bearbeiten Sie bitte zum nächsten Mal oder: Wenden Sie diese Übung auch möglichst oft im Alltag an.
Im Alltag anwenden – wie soll das gehen ? Aus der Praxis wissen wir doch, dass das wegen der pathologischen Bedingungen und der chronifizierten Automatismen für die meisten Patienten ein fast aussichtsloses Unterfangen ist.
Nein, das Üben sollte fachlich gesteuert sein !
Und was heißt Üben letzten Endes ? Was versteht die eine Therapeutin und der andere Therapeut unter Üben ?
Das Alltagswissen sagt, dass man das, was man noch nicht „perfekt“ beherrscht, durch Üben absichern sollte. Insofern erscheint den Patienten und Partnern Üben im ersten Moment als prinzipiell vernünftig.
Doch schnell entstehen Fragen über Fragen, die sich laut Aussage vieler Patientenpartner spätestens dann stellen, wenn die ersten ernsten Konflikte zwischen den Übungspartnern auftreten und die Lust am gemeinsamen Üben schwindet.
Der Patient fragt sich: Was soll ich üben ? Wie soll ich üben ? Mit wem soll ich üben ? usw.
Der Übungspartner fragt: Was soll ich mit ihm üben ? Wie soll ich mit ihm üben ? Wie kann ich ihm helfen, ohne dass wir uns an die Köpfe kriegen ? usw.
Die fehlende Expertise in co-therapeutischer Funktion ist eine Ursache für Unsicherheit, eine andere Ursache sind die veränderten Dominanzverhältnisse in der Partnerschaft. Das kann Spannungen unter den beiden Partnern hervorrufen. Die meisten Betroffenen sind unwissend, was die Gestaltungsmöglichkeiten der Übungen anbelangt. Und deshalb dürfen wir bei Patienten und ihren Partnern im weitesten Sinne keine Übungserfahrung voraussetzen.
Zu diesem Thema habe ich vor kurzem einen Fachartikel gelesen, der den Gedanken der indirekten Sprachtherapie behandelt. Der Autor diskutiert die Idee, Partner der Betroffenen zu schulen und sie dann als Co-Therapeuten für die Betroffenen zu aktivieren.
Ich halte diesen Gedanken grundsätzlich für vernünftig, doch lässt er sich aus meiner heutigen Sicht nicht in die Tat umsetzen. Dazu fehlen nämlich zwei Dinge: 1. Die Zeit für die Schulung der Partner und 2. eine systematische Didaktik der aphasietherapeutischen Übung .
Ich stelle mir einen dritten, gangbaren Weg vor, den ich therapeutisch supervidiertes und geordnetes Üben nenne.
Das hat wenig zu tun mit Nachhilfeunterricht, wo es ja darum geht, den im Schulunterricht neu gelernten Bildungsstoff nachzuarbeiten, zu verstehen und anzuwenden.
Im supervidierten und geordneten Üben soll ein bestimmtes Handeln funktionszielorientiert oft wiederholt werden, bis das zu übende, sprachliche Handeln so sicher ist, dass der Patient es im Idealfall eigeninitiativ produzieren kann. Es geht darum, das neu Gelernte neuronal zu verankern, zu speichern und in der Ausführung zu automatisieren.
Bei welcher Sprachstörung auch immer neue Aktivitäten gelernt und eingeprägt werden müssen – bei jedem sprachlichen Lernvorgang sollte das Neue nach und nach „in Fleisch und Blut“ übergehen.
Interviewerin Frau B.:
Sie sagten gerade „neuronal verankert und gespeichert“. Wie kann ich mir das vorstellen, was da passiert ?
Middeldorf:
Ich versuche Ihnen zu erklären, was bei jedem Menschen passiert, wenn er lernt und übt.
Durch sein Lernen wachsen ihm neue Nervenzellen im Gehirn, wir können sie uns als „Nervenleitungen“ vorstellen. Durch gezielte Sprachtherapie wachsen solche sprachrelevanten Nervenleitungen, die später die erwünschten Fähigkeiten ermöglichen.
Wenn in den Therapiesitzungen bestimmte therapeutische Lernaufgaben immer und immer wieder gestellt werden, dann enstehen – laienhaft ausgedrückt – da „neue, sprachliche Nervenbahnen“.
Jeder Mensch besitzt aufgrund der Fülle an bisherigen Lernprozessen eine Unmenge an Nervenleitungen , die sich zu einem System im Großhirn zusammenfinden. Wir nennen das neuronales Netzwerk.
Dort, wo die Hirnschädigung stattfand, können wir uns ein „neuronales Loch“ im Netzwerk vorstellen, innerhalb dessen die früheren Nervenbahnen durch den schädigungsbedingten Sauerstoffmangel abgestorben sind. Diese bleiben auf immer abgestorben. Die Hirnschädigung ist i.a. lokal begrenzt. Deshalb sind in anderen, unbeschädigten Hirnnerven-Arealen sehr viele Nervenbahnen erhalten geblieben. Darüber hinaus gibt es noch unzählige Hirnzellen, die schlummern und nicht in Funktion sind.
Das ist der Grund, warum Neurobiologen von der Plastizität des Gehirns sprechen.
Aufgrund der milliardenschweren Hirnzellenreserve ist selbst das geschädigte Gehirn lernfähig, woraus wir schließen können, dass auch der hirngeschädigte Betroffen eigentlich noch unendlich viel lernen könnte.
Der hirngeschädigte Erwachsene leitet durch sprachtherapeutisches Lernen und Üben ein Wachstum neuer Nervenleitungen ein, inmitten des bereits vorhandenen neuronalen Netzwerks und „auf den ungenutzten Hirnzellen“ um das neuronale Loch herum.
So baut er bildhaft gesprochen sogenannte Umwegleitungen um das neuronale Loch herum, und die verbinden sich miteinander oder docken auch an gesunde, ungeschädigte „Sprach-Leitungen“ an.
Durch die Nervenbahnen schießen bei jeder Aktivität hunderte von Millionen elektrobiochemischer Impulse durch das Netzwerk. Je öfter spezielle Nervenleitungen in Gebrauch genommen werden, desto mehr werden diese „befeuert“, und das hat Folgen.
Findet das z.B. in einer bestimmten Übungsabfolge für eine sprachliche Handlung über einen längeren Zeitraum oft statt, dann wachsen die für diese Handlung gezielt aktivierten Nervenleitungen im Laufe der Zeit in Länge und Dicke. Aufgrund intensiver und gezielter Befeuerung nimmt die „Nervendicke“ zu. „Dickere“ Nervenbahnen erlauben eine größere Durchlaufmenge und – geschwindigkeit der Nervenimpulse, was wir praktisch daran erkennen, dass wir etwas als „leichter“ empfinden oder spüren, dass etwas „wie von selbst“ funktioniert.
Wir halten fest: Für das Wachstum neurologischer Systeme ist gezielte Aktivierung des Gehirns unerlässlich. Und für ein erwünschtes Können ist ein systematisches, gezieltes Befeuern genau dieser Nervenbahnen unerlässlich. Daraus leite ich mein Credo für das gezielte Üben ab: In einem trainingsähnlichen Üben befeuern wir bewusst und gezielt die für die gewünschte Handlung zuständigen Nervenleitungen.
Wer übt wird sicherer. Wer übt kommt weiter. Wer nicht übt und sich der Passivität hingibt, dem droht der Verlust des neu Gelernten dadurch, dass die neuen Leitungen dann verkümmern und das sprachliche Können abnimmt und verloren geht.
Wir sprachen über die Problematik des Vergessens durch Therapiepausen. Wenn der in der Therapie mühsam eingeleitete neuronengenerierende Lernprozess durch inaktives Verhalten in der therapielosen Zeit konterkariert wird, dann hat das selbstverständlich das Ausbleiben von Therapiefortschritten zur Folge.
Das ist an sich ganz logisch, denn unser Körper handelt klug nach dem Ökonomieprinzip: Was nicht benötigt wird, wird abgebaut, zugunsten einer energieökonomischen Haushaltung. Werden die neuen, sprachrelevanten Nervenfasern nicht von Zeit zu Zeit oder nicht regelmäßig befeuert, also nicht gebraucht oder trainiert, dann entwickeln sie sich folglich nicht weiter oder sogar zurück.
Die intensiv-sprachtherapeutische Erfahrung lehrt uns, dass das Gehirn bedarfsgezielt genau für solche sprachlichen Fähigkeiten neue Nervenverbindungen wachsen lässt, die zur Bewältigung genau dieser sprachlichen Aufgaben erforderlich sind.
Wenn also im sprachlichen Aufbau- bzw. Restitutionsprozess durch „Ruhepausen“ zwischen der einen und der anderen ambulanten Therapiesitzung kein Entwicklungsstillstand oder –rückschritt eintreten soll, dann müssen entweder zwischenzeitlich weitere Therapiesitzungen abgehalten oder logopädische Übungen dazwischen geschaltet werden.
Ich bin der Meinung, dass jedem sprachtherapeutischen Anliegen immer das Bestreben innewohnen muss, dem Patienten zügig auf solche Weise neues Können beizubringen, dass er dieses nicht wieder vergisst.
Interviewerin Frau B.:
Damit drücken Sie aus, dass bei aphasischen Erwachsenen die 2 Sitzungen pro Woche für das Nervenwachstum einfach nicht ausreichen ?
Middeldorf:
Genau so ist es, die Wirkungslosigkeit der 2 Sitzungen pro Woche ist mittlerweile ja auch wissenschaftlich nachgewiesen.
Die Ursache dafür sehe ich – das ist jetzt leicht abzuleiten – in dem Phänomen des schnellen Vergessens. Wer heute immer noch denkt, dass 2 Sitzungen pro Woche weiterführend seien, der irrt kräftig und ist falsch beraten. Selbst die rennomierte Deutsche Gesellschaft für Neurologie spricht in ihren Leitlinien zur Aphasietherapie davon, dass 2 Sitzungen pro Woche für die Restitution von Sprache „keinen Wert haben“.
Interviewerin Frau B.:
Ich habe Sie so verstanden, dass die Übung einerseits der Vertiefung des Lernens dient und andererseits das Vergessen in den Therapiepausen verhindern kann. Wie kann man denn das grundsätzlich erreichen ? Was muss passieren ?
Middeldorf:
Ich möchte dem Vergessen noch einen Moment Aufmerksamkeit schenken. Weil das Vergessen der Feind des Behaltens ist, müssen wir uns aus therapiedidaktischer Sicht immer etwas einfallen lassen, um gegen das Vergessen anzugehen. Denn zum Leidwesen der neuronal geschädigten Patienten führt das – wie gesagt – zu einem nur sehr schleppenden Vorankommen in der Therapie insgesamt, und das muss der Betroffene schließlich erdulden, wobei er meist über die eigentliche Ursache nichts weiß.
Weil der Betroffene deutlich schneller vorankommen, schneller Lernerfolge spüren und eine baldige Wiedergewinnung seiner sprachlichen Teilhabemöglichkeiten sehen will, müsste er viel öfter sprachtherapeutisch aktiver werden bzw. konsequent aktiviert werden.
Ohne eine deutliche Steigerung der Therapiefrquenzen und ohne eine Zunahme an sprachtherapeutischen Aktivitäten wird jeder Patient auf langandauernde, um nicht zu sagen auf permanente, psychisch sehr belastende Geduldsproben gestellt.
Die sogenannte 2-Jahres-These konnte dadurch entstehen, dass viele aphasische Patienten nach 1-2 Jahren ungeduldig wurden und verzagten und ohne die erforderliche Unterstützung dann aufgaben.
Was blieb ihnen denn anderes übrig, als sich resigniert mit dem Sprachverlust und in dessen Folge auch mit dem endgültigen Verlust einer aktiven Teilhabe abzufinden ?
Sie fragten: Was muss passieren ?
Obwohl wir eine gravierende Änderung der Therapiefrequenz 2 x wöchentlich in Kürze nicht erwarten dürfen – dazu ist dieses Therapiemaß zu etabliert und zu sehr im Bewusstsein der gesundheitspolitischen Öffentlichkeit verankert – dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wie volkswirtschaftlich gesehen Millionen aus dem Fenster geworfen werden und wir den leidenden aphasisch Betroffenen mit 2 Sitzungen pro Woche keinesfalls behilflich sein können.
Ich sehe eine Möglichkeit, die dem Betroffenen effektiv und ohne Kosten für die Sozialgemeinschaft der Krankenversicherten helfen kann.
Das private Üben. Ich bin der Meinung, dass jeder Patient einen Großteil an Verantwortung für sein eigenes Fortkommen selbst übernehmen sollte. Denn er ist sich selbst der nächste, und er selbst verfügt über seine eigene Zeit. Er entscheidet, wofür er seine Zeit zur Verfügung stellt. Das Bewusstsein dafür muss geweckt werden.
Wenn er sich davon überzeugt, dass täglich eigenes Üben letztlich die Voraussetzung ist für seinen erfolgreicher verlaufenden Therapieprozess, dann ist er auch dazu bereit.
Wenn das private, supervidierte Üben praktiziert würde, dann wäre eine gute Voraussetzung gegeben für die Kombination von qualifizierter Arbeit der Sprachtherapeutin und konsequentem Üben des Patienten – die Basis für deutlich wirksamere Therapieprozesse.
Sie kennen das oftmals zitierte Sprichwort: Übung macht den Meister. Diese Lebensweisheit gilt überall und für jeden – deshalb auch für sprachgestörte Menschen, die in der Sprachtherapie Neues lernen und vertiefen wollen.
Interviewerin Frau B.:
Ja, ich verstehe. Ich würde jetzt gern erfahren, wie Sie sich das private Üben konkret vorstellen. Würden Sie mir das im nächsten Interview erzählen ?
Middeldorf.
Ja, gern. Ich bin mir sicher, dass die Übungsthematik auch bei sprachgestörten Betroffenen auf Interesse stößt. Deshalb habe ich vor, unsere Gespräche auf meiner Homepage als Lektüre zur Verfügung zu stellen.
Interviewerin Frau B.:
Oh, das ist eine gute Idee. Wann machen wir weiter ?
Middeldorf:
Ich muss mir noch einen Termin morgen Abend rückbestätigen lassen. Rufen Sie mich bitte in einer halben Stunde an. Dann kann ich Ihnen Genaues sagen.
Interviewerin Frau B.:
Gut, das mache ich.
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