Interview 14: Notwendigkeit des geordneten Übens
Erstellt am 1. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, sagen Sie mir bitte, warum Sie den geordneten Übungen eine so große Bedeutung beimessen.
Und was sind geordnete Übungen ? Was ist deren Sinn und Zweck ?
Middeldorf
Die geordneten Übungen sind Übungsaufträge, die die Therapeutin dem aphasisch Betroffenen zum Üben erteilt und deren Durchführung sie supervidiert.
Geordnete Übungen geben an, wie oft wann und auf welche Weise mit wem was genau durchgearbeitet werden soll.
Der Sinn des geordneten Übens ist, dass der übende Betroffene das in der Therapie Beigebrachte in seiner Freizeit verinnerlichen kann.
Der Zweck ist, dass er das, was ihm die Therapeutin in der einen Sitzung beigebracht hat, in die nächste Sitzung als Könnensbestand mitbringt.
Ich messe den geordneten Übungen deshalb eine so große Bedeutung bei, weil ich das am stärksten störende Faktum in der Aphasie- und Dysarthrie-Therapie im schnellen Vergessen des Gelernten von einer Sitzung zur anderen sehe.
Das ist nach meiner Erfahrung der wesentlichste Grund dafür, dass Aphasietherapie in der traditionellen Form mit 2 – 3 Sitzungen pro Woche den bekannt niedrigen Wirkungsgrad zeigt.
Ich meine, dem Vergessen sollte gründlich entgegengewirkt werden, was letztendlich die Effektivität der Aphasietherapie steigert.
Dazu empfehle ich, über geordnetes Üben nachzudenken und konkrete Formen des geordneten Übens a la longue in den Therapieprozess einfließen zu lassen.
Interviewerin Frau B.:
Bitte erläutern Sie mir den Aspekt des Vergessens näher. Vergessen tun wir doch alle. Warum sehen Sie das Vergessen als Grund dafür an, dass die Effektivität der ambulanten Aphasietherapie unzureichend sei ?
Middeldorf
Weil der Abstand von einer Sitzung zur nächsten zu groß ist. Wenn Sie sich als Betroffener nicht alles notieren – Sie vergessen die Einzelheiten aus der Therapiesitzung. Und wenn Sie die Übungsinhalte zu Hause nicht konsequent wiederholen, dann fangen Sie in der nächsten Sitzung wieder da an, wo Sie zu Beginn der letzten Sitzung waren, also nicht einen Schritt weiter !
Ich möchte in dem Zusammenhang einen Blick werfen auf die Eigenaktivität des Patienten.
Ich habe bereits an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht, dass unser traditionelles Denken über Therapie geprägt ist von der Einstellung, dass man sich als Patient in der Therapie von der Therapeutin behandeln lässt. Das „Sich-Behandeln-Lassen“ involviert Passivität, die wir aus der Massage und den medikamentös-medizinischen Therapien kennen. „Der Heilbehandler macht mit mir schon etwas, was mir helfen wird,“ so die Grundhaltung beim Patienten. Diese Einstellung beeinflusst selbstverständlich das Handeln im Therapieprozess und die Erwartung an die Therapie, beim Patienten wie auch beim Therapeuten, und aufgrund dieser Einstellung brauchte sich in der Vergangenheit auf der Patientenseite keine Kultur der Eigenverantwortlichkeit für die eigenen Therapiefortschritte entwickeln.
Doch die moderne Zeit macht Fitness, Joggen und Diäten, Datenerfassung hinsichtlich eigener Körperfunktionen usw. zu alltäglichen Anliegen, so dass der Mensch – jeder auf seine private Weise – heute seinen Blick stärker auf sich selbst wirft und durch die Informationsgesellschaft ermutigt und gerüstet wird, aus eigenem Antrieb mehr für sich zu tun. Ein Eigenüben passt heute viel besser in unsere heutige Zeit als das herkömmliche Bild vom Sich-Behandeln-Lassen.
So stelle ich fest, dass manche sprachlich Betroffene durchaus technisch gut ausgestattet sind und auch prinzipiell zielstrebig sprachlich üben würden, wenn sie im Umgang mit der Technik und in Übungsprogrammen gut angeleitet wären.
Eigenüben tut Not, weil sich sonst Aphasietherapie i.a. über einen langen Zeitraum erstreckt, ganz oft über viele Jahre. Und das bei allen Beteiligten an die Substanz.
Interviewerin Frau B.:
Das erklären Sie mir doch bitte etwas näher. Bei Kindern und bei jungen Erwachsenen geht es auf jeden Fall schneller, oder ?
Middeldorf:
Nun, das hat nichts mit dem Alter zu tun sondern mit dem Ausmaß und der Schwere der Hirnschädigung.
Bei jedem hirnschädigenden Krankheitsverlauf, wie es der Schlaganfall ist, sterben durch Sauerstoffmangel Hirnnervenzellen ab und damit die Funktionen, die prämorbid durch Befeuern genau dieser jetzt abgestorbenen Nervenzellen bewerkstelligt wurden. Sie können jetzt nicht mehr befeuert werden, weil die Nervenleitung an dieser Stelle tot sind und bleiben. Jetzt heißt es, sich entweder mit dem Verlust abzufinden und mit den Verlusten leben zu lernen – oder – ehrgeizig die riesigen Reservepotenziale des Gehirns in Aktion zu bringen, sie auszuschöpfen, indem man Neues lernt. Nur durch Lernen generieren wir neue Nervenverbindungen, die wir um das neuronale Loch herum wachsen lassen können. Prinzipiell ist das immer möglich. Aber Fakt ist auch, dass der neuronale Wachstumsprozess an sich sehr langsam vonstatten geht. Das liegt in der Natur der Sache. Das Nervenzellwachstum braucht mehr Zeit als das Wachstum aller anderen Körperzellen.
Aber was ich hervorheben möchte ist, die Erkenntnisse in bezug auf die Steigerungsmöglichkeiten der Effizienz der Aphasietherapie wachsen. Spezielle Methoden in der Aphasietherapie werden zur Anwendung empfohlen, bestimmte Therapieformate werden als effektiv angesehen, die technologischen Möglichkeit via Internet sind in der Anwendung. In jüngster Zeit werden in der Literatur auch Ideen laut, die das Eigenüben des Patienten beleuchten und für sinnvoll erachten.
Ich bin ein Freund der Eigenverantwortlichkeit an den Punkten, wo ich als Individuum mit meinen eigenen Beiträgen Einfluss nehmen kann auf das jeweilige Geschehen.
Insofern reflektiere ich aus dem Blickwinkel des aphasisch Betroffenen dessen Möglichkeiten und Grenzen, sich mit viel mehr Eigenverantwortung und Eigenaktivität um den eigenen Heilungsprozess zu kümmern.
Wesentlich für den Therapieerfolg ist die innere Einstellung des Betroffenen und seines Partners hinsichtlich der Frage, was er eigentlich als Erfolg definiert und was er selbst zu seinem Erfolg beitragen kann.
Und hier sehe ich eine enge Verbindung zwischen den professionellen Interventionen und den Eigen-Bemühungen des Patienten.
Zurück zum Vergessen des aphasischen Patienten. Ich versuche die Gründe für das Vergessen in aller Kürze zu beschreiben.
Dem aphasisch Betroffenen bringt die Therapeutin in ihrer Sitzung ein bestimmtes Können bei, z.B. eine bestimmte sprachliche Funktion wie die Bildung eines Vokals, oder ein bestimmtes Sprachhandeln wie das fehlerfreie und laute Lesen eines Satzes oder das Anwenden der gelernten, sprecherischen Verhaltensregel beim smalltalk usw.
Leider ist zu beobachten, dass hirngeschädigte Betroffene ihr in der Therapiesitzung beigebrachtes Können außerhalb der Therapiestunde überraschend schnell wieder verlieren, weil es im Anschluss an die Therapiesitzung nicht weiterhin fokussiert und beispielsweise zu Hause nicht konsequent abgerufen wird.
Der Alltag des Betroffenen fördert in entscheidender Weise das Vergessen.
Wir alle kennen das: Die gewohnten Abläufe und Verpflichtungen im Alltag überlagern ungewollt das therapeutisch Notwendige.
Da sind die Kinder oder die Enkel mit ihren wichtigen Anliegen und Themen, um die sich vieles dreht, das sind die täglichen Besorgungen und Verpflichtungen, um die sich die Familie kümmern muss, die Überlegungen zur Anschaffung eines neuen Autos oder zur die Planung des nächsten Urlaubs oder die Überlegungen, welche Gäste zur anstehenden Geburtstagsfeier eingeladen werden sollen oder die Sorgen, die sich um die Zukunftsgestaltung ranken usw.
Der aphasisch Betroffene ist mitten drin. Auch er selbst hat seine alltäglichen Abläufe, seine speziellen Interaktionen mit den Familienmitgliedern, folgt seinen Strategien der Bedürfnisbefriedigung im Rahmen seiner Möglichkeiten usw.
Alle Mitglieder des sozialen Systems Familie haben ihre Rollen und ihre „Funktionen“ im alltäglichen Allerlei der sich wiederholenden Abläufe.
Die Therapeutin verabschiedet ihren Patienten mit den wohlmeinenden Worten: „Und das üben Sie bitte zu Hause zum nächsten Mal“.
Fokus auf die Anwendung der neu gelernten Funktion legen – doch wie soll das gehen ?
Der aphasisch Betroffene ist gefangen in seinem, durch die Hirnschädigung hervorgerufenen Status, und seine Verhaltensgewohnheiten haben festen Bestand, sie sind im Laufe der Zeit zur Gewohnheit geworden.
Die beschriebenen alltäglichen Abläufe und Ereignisse führen oft dazu, dass sie den Betroffenen im Moment mehr beschäftigen als das aktuelle therapeutische Anliegen.
Im übrigen fällt es ihm äußerst schwer, aus eigenen Kräften die neuen, zu übenden Aktionen fehlerfrei zu meistern. Deshalb wartet er vermutlich lieber auf die nächste Sitzung mit der Therapeutin.
Die therapeutischen Inhalte, die er sich vorgenommen hat zu üben, verblassen ganz schnell.
Verblassen führt zum Vergessen. Und mit diesem Problem haben alle neuropädagogisch arbeitenden Therapeuten zu tun.
Ich behaupte, dass in den meisten Fällen es zu Hause aber auch sowohl an therapierelevantem Wissen und an therapeutisch sinnvollen Möglichkeiten der Umsetzung der Aufgabenstellungen fehlt.
Würde der Patient und sein Umfeld den gemeinsamen Alltag auf die therapeutischen Lernnotwendigkeiten ausrichten und verändern, ich bin sicher, das bekäme der Aphasietherapie sehr gut aufgrund des Vertiefungs- und Transfereffektes durch oftmaliges Abrufen und Anwenden des neuen Könnens – doch das ist ein schier illusionäres Wunschbild, weil zur Zeit und wahrscheinlich auch in Zukunft dahingehend professionelle Beratung und praktische Unterstützung nicht zu erwarten sind.
Der Effekt eines oftmaligen Abrufens bestimmter Leistungen ist neuropädagogisch betrachtet der, dass die neuen, „zarten“ Nervenverbindungen immer wieder zur Durchleitung der elektrobiochemischen Impulse stimuliert und so zu weiterem Wachstum aktiviert werden. Die positive Folge ist dann das zunehmend „leichtere“ Abrufen der gewünschten Leistung, was ja therapeutisch gewünscht ist.
Beibt aber das häufige, täglich mehrmalige Abrufen aus, dann „verkümmern“ die Durchleitungsfähigkeit und das weitere Wachstum der neuen Nervenverbindungen. Das wirkt sich im kognitiven Verhalten als Vergessen aus.
Wie ich bereits angedeutet habe erweist sich das Vergessen des in der Therapie neu Gelernten als großes Hemmnis des Therapieprozesses im Ganzen.
Dem entgegenzuwirken durch Wiederholen und Vertiefen ist meines Erachtens eine der bedeutendsten Herausforderungen an die Aphasietherapie.
Um Vergessen zu verhindern, sollte jeder neuropädagogischen Sitzung auf dem Fuße ein gezieltes Üben und Anwenden des neu Gelernten folgen.
Wir erinnern uns selbst. Wir alle kennen das Überlernen von neuem Wissensstoff aus der Schulzeit, aus der Zeit in der Hochschule oder Berufsschule. Vor der Klassenarbeit und vor Prüfungen haben wir uns hingesetzt und haben uns hochkonzentriert Wissensdaten angeeignet, eingeprägt, wiederholt, versprachlicht. Dafür mussten wir uns Zeit nehmen.
Das war ein hochfrequentes Üben. Wir haben damit für das Behalten der Informationen und des gelernten Tuns gelernt und gegen das Vergessen des abzurufenden Könnens geackert. Und durch die spätere Anwendung des Wissens im Berufsleben haben wir es vertieft und es uns zu eigen gemacht.
Interviewerin Frau B.:
Und wie verhält es sich in der Sprachtherapie ?
In der Aphasie-Therapie beispielsweise verhält es sich grundsätzlich anders mit dem Lernen und Behalten des Beigebrachten. Wärend wir „Hirngesunden“ zu unserem Wissenserwerb und für die kognitiven Verarbeitungs- und Behaltensleistungen das komplette neuronale Netzwerk zur Verfügung haben, steht dem aphasisch Betroffenen ein nur lückenhaftes, unvollständiges Netzwerk zur Verfügung. Das hat die sichtbaren und hörbaren kognitiven, sprachlichen, motorischen und sensorischen Ausfälle zur Folge. Das aphasiespezifische Lernen zielt – trotz der erwähnten Erschwernisse – auf das Neuwachstum von Nervenbahnen ab.
Die Aphasietherapeutin stimuliert und generiert Nervenwachstum und baut darauf auf. Ich gehe fest davon aus, dass das Tempo des Neuro-Wachstums direkt mit der Nutzungsintensität in den neu aufgebauten Nervenleitungen korreliert.
Deshalb plädiere ich für ein häufiges, gezieltes Üben des neu Gelernten zu Hause, gesteuert von der professionellen Therapie.
In diesem Gesamtzusammenhang müssen wir auch die psychische Verfasstheit des Betroffenen und die seines nahen Umfeldes ins Kalkül ziehen. Eine positive Gestimmtheit für das Üben ist die beste Grundlage für den Neuaufbau im neuronalen Netzwerk.
Daher sollte das Üben so gestaltet sein, dass es bei allen Beteiligten positive Erfahrungen und dadurch Freude schafft.
Das können wir erreichen, wenn wir es ermöglichen, dem Übenden seine Leistungssteigerungen zu „beweisen“, sie ihm sichtbar zu machen und den Rückschluss zu ziehen, dass diese Leistungssteigerungen auf sein übendes Lernen zurück zu führen sind. Erfolg stimmt froh. Erfolg motiviert.
Interviewerin Frau B.:
Kommen Sie bitte noch einmal auf das geordnete Üben zurück. Beschreiben Sie mir das bitte näher.
Middeldorf
Der hirngeschädigt Betroffene will nicht vergessen, er will behalten, doch das schafft er heute nicht mehr so wie früher allein. Schon gar nicht mehr so leicht wie früher, als sein neuronales Netzwerk ohne dieses behindernde Loch im Neuro-Netzwerk noch ein globales, gigantisches Feuerwerk der elektro-bio-chemischen Impulse entfachen konnte – als er noch schnell speichern und reproduzieren konnte .
Durch die Hirnschädigung ist im neuronalen Netzwerk ein „Loch“ entstanden. Dieser abgestorbene Bereich in dem betroffenen Areal verhindert nun das früher funktionierende Hindurchschießen der Neuro-Impulse aufgrund der dort nicht mehr existierenden Nerven-Leitungen. Ich möchte aber nicht langweilen ….Ich habe diesen Zusammenhang ja schon erwähnt.
Interviewerin Frau B.:
Nein, das ist sogar gut, wenn man dieses folgenreiche Ereignis aus verschiedenen Perspektiven betrachtet.
Middeldorf:
Na prima. Dieses neuronale Loch erschwert natürlich einen Großteil der kognitiven Funktionen wie Denken, Assoziieren, Erinnern usw. .
Ein Bild mag das verdeutlichen: Das neuronale Netzwerk hat dieses Loch. Durch dieses Loch verliefen früher intakte Leitungen, die von allen Seiten her kamen und in alle Richtungen hinführten. Heute stoßen die ankommenden Leitungen an den Rand des Lochs. Die Neuro-Impulse kommen nicht weiter, es gibt keine Nervenverbindung, die durch das Loch weiterführt.
Aufgrund des Verlustes seiner vollen kognitiven Leistungsfähigkeit braucht der aphasisch Betroffene einerseits generell kompensatorische Unterstützung im Alltag, andererseits, um den konzentrierten Neuaufbau von Nervenleitungen zu beschleunigen, Übungsunterstützung durch Übungspartner.
Das sind im ersten Moment meist die Lebenspartner oder Verwandten. Die sind jedoch oft nicht greifbar oder insofern überfordert, als sie als „Laienhelfer“ i.a. nur intuitiv unterstützen können – meist aber ohne professionelles Wissen und ohne klare Anleitungen und Vorgaben für ein Coachen des Betroffenen.
Am liebsten wäre mir, trotz der gegebenen Umstände, dass der Betroffene weitgehend selbstständig und allein üben könnte. Dazu bräuchte er erst recht geordnete Übungen, die in der Planung so klar strukturiert und einfach dargestellt sind, dass er sie nach Einweisung durch die Therapeutin allein erinnern und selbstständig durchführen kann.
Die geordnete Übung ist ein von der Therapeutin auf die Patientenfähigkeiten und auf den momentanen Lern-Kanon fachlich gezielt abgestelltes Handlungsprogramm, was sie ihrem Patienten mit nach Hause gibt und von Zeit zu Zeit supervidiert.
Diese Handanweisung gibt einige Dinge vor:
1. was genau geübt werden muss,
2. wie genau geübt werden soll,
3. wann und wie lang geübt werden soll,
4. welches Können genau erreicht sein soll.
Interviewerin Frau B.:
Erklären Sie mir bitte, warum das heimische Üben von der Therapeutin so detailliert vorgeschrieben werden muss.
Middeldorf
Wie ich in einem anderen Zusammenhang schon gesagt habe, ist die Vergessensrate sehr groß.
Ein Übungsprogramm sollte trainingsmäßig durchgeführt werden, gleichmäßig, intervallmäßig, u.U. an verschiedenen Orten, mit unterschiedlichen Übungspartnern. Und dazu braucht man das Übungsprogramm schriftlich.
Die 4 genannten Punkte beschreiben die Struktur einer geordneten Übung. Wenn zu jedem Punkt eine klare Information gegeben wird, dann bekommen alle Beteiligten einen „Fahrplan“, der den Sinn und die Form der Übung kennzeichnet.
Damit entwickelt der Patient Verständnis für sein Tun, der Übungs-Partner Anhaltspunkte für sein eigenes Handeln als „Trainer“, und die Therapeutin kann durch Nachfragen hinsichtlich der häuslichen Gestaltung der Übungen Rückschlüsse ziehen auf die Effizienz der formulierten Übungen.
Mit diesem Übungs-Fahrplan ergibt sich eine bessere Sinn-Orientierung, ein besseres Verständnis des Vorgehens, ein besseres Erleben von Lernentwicklung und natürlich auch die Korrektur bei nicht fehlerfreier Übungsausführung, wenn mit dem Partner geübt wird.
Die Therapeutin arbeitet den Übungs-Fahrplan aus und spricht ihn mit dem Patienten und dem Partner durch.
Weil kein Übungsplan inhaltlich genau dem eines anderen Patienten gleicht, wird das geordnete Üben auf jeden Aphasie-Patienten individuell angepasst.
So ergibt sich bei jedem aphasischen Patienten – aber selbstverständlich auch bei jedem anderen „hirngesunden“ Patienten – längerfristig ein ganz individuelles, aktualisiertes Arbeits -und Übungsprogramm – am besten zusammengefasst in Form einer Art “Tagebuch der Übungen “. Später ist es immer interessant zu erinnern, mit was man sich früher hat beschäftigen müssen und welch großen Entwicklungsschritt man von der ersten Übung bis heute geschafft hat.
Solche schriftlichen Langzeit-Dokumentationen ermöglichen den Mitmenschen nicht nur dem motiviert Übenden positive Rückmeldung zu geben und ihn dadurch motiviert zu halten, sondern auch einem überskeptischen Übenden den erfolgreichen Entwicklungsverlauf zu erklären.
Das geordnete Üben hat, wenn es professionell begleitet wird, den therapeutischen Effekt, dass das thematisch-inhaltliche Programm der Therapeutin in die therapiefreie Zeit zuhause getragen wird. Das systematische Übungs-Lernen führt zur Vertiefung des Therapiestoffes und dient der Vergessensvorbeugung.
Wenn der aphasisch Betroffene dem von seiner Therapeutin beschriebenen Übungsablauf weitestgehend folgt, dann vertieft und festigt er nicht nur das, was er in der Therapiesitzung kennen gelernt hat. Er entwickelt darüber hinaus auch ein neues Gefühl für richtig und falsch.
Die Eigenwahrnehmung des eigenen Handelns wird differenzierter. Das ist die Voraussetzung für Selbstkorrekturen und letztlich auch für ein selbständiges Bearbeiten von Übungsinhalten beim Eigenüben.
Bei Vorliegen der Sammlung von bereits durchgearbeiteten geordneten Übungen kann der Übende das früher neu Gelernte durch wiederholendes Über-Lernen vertiefen, absichern und für den Transfer vorbereiten. Ich erinnere mich an meinen Lateinlehrer, der uns diesen Tipp gab, jeden Tag 10 „alte“ Vokabeln zu wiederholen. Das zeigte bei mir nicht von heute auf morgen, aber doch nach zwei, drei Monaten Wirkung. Ich hatte mehr Vokabeln im aktiven Gebrauch.
Beim selbstständigen „Überlernen des Gelernten“ hat der Übende auch die Gelegenheit, “emanzipiert ” und in eigener Regie die Übungen auszuwählen, die er wiederholen will. Dieses Erleben der gewissen Freiheiten zu eigenen Handlungs-Entscheidungen lässt in deren Folge zunehmend Mut entwickeln, z.B. kompetenter zu agieren und unabhängiger vom Einfluss der Therapeutin sich in seinem neuen Können selbständig zu erproben.
Dabei gewinnt er auch wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse darüber, wie sein Lernen unter den neuen, neurologischen Bedingungen abläuft.
Ich hoffe, dass der aphasisch Betroffene dann durch wachsende Kompetenz mehr und mehr Sprech-Mut entwickelt, in eigener Regie ohne Fremdhilfe die Kommunikation mit anderen sucht und Schritt für Schritt seine neuen Fähigkeiten zeigt.
Letztlich bedarf es dazu des geordneten Übens. Ohne das wird das große therapeutische Projekt scheitern. Zum Erfolg wird es führen, wenn Professionalität in die Planung, Gestaltung und Durchführung des Übens kommt.
Mut zur Selbstständigkeit wächst, Trainingseffekte wachsen, das angeschlagene Selbstbewusstsein wächst und die Gewissheit reift, dass „es doch noch möglich scheint, sprachlich besser zu werden“ (O-Ton).
Interviewerin Frau B.:
Sie trauen dem aphasisch Betroffenen zu, dass er mit Hilfe des geordneten Übens eine Selbstständigkeit im eigenen Übungen entwickeln kann ?
Middeldorf
Ja, ich bin ganz sicher.
Im Laufe der vergangenen 24 Jahre in Lindlar konnte ich viele hundert aphasisch Betroffene über mehrere Jahre beobachten.
Die meisten von Ihnen haben sich selbstverständlich primär auf die Intensivtherapie konzentriert. Doch von diesen wünschte sich wieder eine beachtliche Zahl das selbstständige Üben im Apartment mit logopädischem, polimodal stimulierenden, videounterlegten Sprachprogrammen.
Der erwachsene aphasische Patient kann das selbstständige Üben lernen, weil er viel rehabilitatives Potenzial mitbringt – Weltwissen, Lebenserfahrung, Intelligenz, Motivation, Ehrgeiz, Vernunft, … .
Wenn man dem Betroffenen verständlich erklärt, warum sich für ihn regelmäßiges Üben lohnt, dann versteht er es auch.
Ob er es dann jedoch auch konsequent durchführt, das hängt einmal von seinem Willen und von seiner Motivation zum Üben ab.
Letztlich entscheidend sind aber die von ihm selbst empfundenen positiven Übungseffekte. Wertet er diese als Erfolg, dann verspürte er Lust auf mehr.
Interviewerin Frau B.:
Ich kann nachvollziehen, was Sie sagen. Deshalb verstehe ich eins nicht. Sie sprachen bereits schon einmal das fehlende Üben in der Therapie – wie Sie es nannten – an. Ist das wirklich so, dass nicht geübt wird ? Ich dachte immer, dass Üben ein selbstverständlicher Bestandteil der Sprachtherapie sein.
Middeldorf:
Im Prinzip ist es das auch so.
Nur – ich sehe, dass in der ambulanten Aphasietherapie das vertiefende und zielorientierte Üben keinen nennenswerten curricularen Raum einnimmt. Nach meiner Sicht der Dinge wird das Üben eher nur als Beiwerk der sprachtherapeutischen Arbeit verstanden.
Erst in jüngerer Zeit tritt das Thema Üben und alltagsgemäßes Anwenden des Gelernten in der pragmatischen Aphasietherapie ins Blickfeld der sprachtherapeutischen Didaktik.
Das ist erklärbar im Zusammenhang mit der ICF und einem sich daraus ableitenden und entwickelnden neuen Paradigma der Sprachtherapie.
Man ist heute bestrebt, der ICF-Forderung folgend dem alltagsorientierten, handlungsorientierten und teilhabeorientierten Therapieren und einer dementsprechenden Therapiegestaltung Rechnung zu tragen.
Das ist eine therapie-fachliche Antwort auf die Frage nach der Zielrichtung der Sprachtherapie allgemein, die ich voll unterstreiche.
Das jedoch ist nicht Kern meiner Kritik.
Der kritische Punkt ist die Frage, wie wir letztlich fachlich und übungstechnisch auf die Herausforderung eingehen, der wir uns ausgesetzt fühlen, wenn der hirngeschädigte Patient und dessen Partner uns Professionellen immer und immer wieder den größten Wunsch als Therapie-Ziel zum Ausdruck bringen : „Ich will wieder sprechen können !“.
Interviewerin Frau B.:
Aber ich verstehe nicht, dass das Üben, wie Sie sagen, nur eine Nebenrolle spielt.
Middeldorf
Ja, das Erarbeiten von Neuem ist interessant. Das ist spannender als das x-malige Wiederholen und Überprüfen. Das Üben ist – sprechen wir das doch mal klar aus – unpopulär.
Es erinnert an Schule. Es erinnert uns irgendwie an Schwäche. Unterbewusst muss der üben, der schwächelt.
Unterschwellig wird das Üben auch assoziiert mit Anstrengung. Und Anstrengung bringt man nur dann gern auf, wenn reale Aussicht auf Fähigkeitszuwachs besteht.
Deshalb ist es so wichtig, dem Betroffenen die Sinnzusammenhänge des geordneten Übens näher zu bringen, speziell was das funktionelle Üben anbetrifft, denn da braucht man Konsequenz und Durchhaltevermögen – auf beiden Seiten.
Die ICF- Teilhabe- und alltagsorientierte, pragmatische Aphasietherapie zielt auf das Kommunizieren-Können in Alltags-Interaktionen.
Der Sinn der ICF-orientierten Vorgehensweise ist der, dass nicht mehr wie früher am aphasischen Symptom ohne Realitätsbezug herumkuriert wird sondern dass heute in jeder Therapie auf das Zielverhalten des aphasisch Betroffenen einzugehen ist.
Nehmen wir an, dass ein aphasisch Betroffener oder sein Partner im ICF-paradigamtischen Sinne das Telefonieren-Können als Aktivitätsziel formuliert, dann erarbeitet die Ergotherapie die Handhabung des Telefon-Mobilteils, die Physiotherapie das Halten des Mobilteils in Steh- oder Sitzhaltung und die Logopädie das Sprechen am Telefon.
Sie können sich sicherlich vorstellen, dass die Sprachtherapeutin zur Aktivitätszielerreichung auf das systematische Bearbeiten des Sprechens keinesfalls verzichten darf, denn das Erarbeiten sprecherischer Fähigkeiten gilt als therapeutischer Schritt auf dem Weg zum Aktivitätsziel Telefonieren-Können, dem Ziel des Patienten.
Zu Gunsten des ICF-Teilhabegedankens und einer interaktiven Aphasietherapie dürfen wir aber keinesfalls den Übungsaspekt und das stringente, konsequente Training von neuen sprachlichen und sprecherischen Teilfunktionen vergessen. Denn auch bei diesem Paradigma auf dem Weg zur zufriedenstellenden Teilhabe muss – um dem Vergessenvorgang entgegen zu wirken – das geordnete Üben unter dem neuropädagogischen Wiederholungs- und Vertiefungsgedanken möglichst täglich durchgeführt werden.
Auch wenn u.U. die Auffassung bestehen könnte, dass es in der ICF -ausgerichteten Therapie weniger um funktionelles Lernen geht – wir dürfen uns nicht ablenken lassen von therapeutischen „Nebenschauplätzen“ und müssen weiterhin gezielt das neuropädagogische Übungsanliegen im Blick behalten.
Das geordnete Üben steht nicht im Widerspruch zum alltagsorientierten Handeln; im Gegenteil. Auch das zu übende Handeln, z.B. die Form des Rollenspiels Telefonieren, muss systematisch geübt werden, wenn es hinreichend natürlich wirken und als solches in das eigene Verhaltensrepertoire integriert werden soll.
Ich wiederhole mich wenn ich sage, dass aus neuropädagogischer Sicht in jeder Aphasietherapie die erwünschten, für das gewünschte Können erforderlichen Nervenverbindungen aufgebaut werden müssen, wenn das erwünschte Können dann zum Einsatz gebracht werden soll.
Erwiesen ist, dass das durch eine hochfrequente Übungs-Aktivität abgesichert wird.
Leider gibt es meines Wissens nach weder größere Studien zur Wirkung des therapeutischen Übens noch Untersuchungen am Patienten zu etwaigen Lernleistungssteigerungen.
Aus der wissenschaftlich erwiesenen Tatsache jedoch, dass hochfrequente Therapien (10 – 15 x pro Woche oder mehr) größere sprachtherapeutische Wirkung generiert als niedrigfrequente Therapie, muss doch geschlossen werden, dass die dabei gewonnene größere Stimulationshäufigkeit einerseits das Neulernen durch Wiederholungen begünstigt und andererseits das Vergessen durch stete Erinnerungsprozesse reduziert.
Insofern können wir schlussfolgern, dass der positive Effekt des systematischen Übens im Rahmen von Intensiv-Therapie nachgewiesen ist.
Interviewerin Frau B.:
Wie sehen die anderen Therapeuten das Thema des Übens ?
Middeldorf
Das weiß ich nicht. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, mich mit anderen Kollegen über das Thema „Notwendigkeit des geordneten Übens“ auszutauschen, weil es bisher keine Fachkonferenzen gab, die dieses Thema auf der Tagesordnung hatten.
Ich gehe aber davon aus, dass die meisten Therapeuten das Üben rational als wesentliches, curriculares Lern-Modul ansehen und deshalb das Üben nach der Therapiesitzung zu Hause empfehlen.
Das kann aber deshalb nur eine wohlgemeinte Empfehlung mit geringer Wirkung sein, weil Unwissenheit bleibt. Wie soll der Patient sinnvoll üben, wenn er nicht weiß, wie er allein üben soll aufgrund seiner sprachlichen Defizite und mit eingeschränkten oder verloren gegangenen Kompetenzen ?
Die Sprachtherapeuten hoffen natürlich bei dieser häuslichen Übungsempfehlung auf die Unterstützung durch einen Familienangehörigen. Doch – mit Verlaub gefragt – sind die Angehörigen denn als Laienhelfer dazu überhaupt in der Lage ?
Wir haben das schon thematisiert.
Weil es aber so ist, dass die Therapieeffektivität im direkten Zusammenhang mit der Quantität der Therapie- und Übungssitzungen pro Woche steht, bedarf es dringend eines Umdenkens im Aufbau der Aphasietherapie mit zusätzlichen, bezahlten Kontingenten für professionelle Planung, Gestaltung und Begleitung der geordneten Übungen zu Hause.
Es gibt bisher noch keine Studien zu der Wirksamkeit von Übungen zu Hause. Das wäre übrigens ein riesiges Studiengebiet im Rahmen von Bachelor- und Masterarbeiten in den Disziplinen Logopädie, sprachtherapeutische Wissenschaften, Psychologie, Sprachheilpädagoik und Logopädie.
Mich persönlich hat die Übung des Patienten als lern-therapeutisch relevantes Therapie-Modul im Laufe der letzten drei Jahrzehnte stets beschäftigt.
Zwar ohne Budget für Forschung, aber mit interessengeleitetem Erfahrungsgewinnstreben haben wir in unserem Haus in Projekten mit wissenschaftlich untermauerter Herangehensweise herausgefunden, dass aphasische Patienten durchaus in der Lage sind, nach Einweisung in die Handhabung der Übungsmaterialien, mit denen sie dann über 2 Wochen haben üben können, mit Lernzuwachs zu üben – selbstständig, ohne Hilfe durch Therapeut oder Partner.
Interessante Ergebnisse ließen sich bei allen Projekten erkennen. Sie können diese Ergebnisse auf unserer homepage www.logozentrumlindlar.de unter 2006, 2009 und 2011 eisehen.
Ich bin der Meinung, dass wir doch nicht unkritisch untätig bleiben dürfen, wenn wir wissen, dass immer wieder Könnens-Zugewinne bei denjenigen Betroffenen zu beobachten sind, die sich intensiv und konzentriert mit speziellen, sprachtherapeutischen Aufgaben über gewisse Zeiträume befassen – und wir auf der anderen Seite die große Vergessensrate bei den ambulanten Patienten als gegeben ansehen müssen, die wenig oder gar nicht zusätzlich üben.
Daher mein Appell – Schließen Sie die Lern-Löcher zu Hause in der Zeit zwischen den ambulanten Sitzungen !
Fordern wir Kapazitäten für die Professionalisierung des geordneten Übens, damit auch zu Hause sinnvolle systematisch-lerntherapeutische Prozess geschehen.
Die Finanzierungsfrage ist m.E. relativ schnell geklärt, wenn man z.B. in der Therapiesitzung die letzten 8 Minuten zur Zusammenfassung nutzt und mit dem Patienten berät, was er und wie er zu Hause üben kann.
Das ist ein Beitrag zur Verbesserung der Aphasietherapie. Die Implementierung des Übens in den aphasietherapeutischen Ordnungsrahmen wäre für alle aphasisch Betroffenen von größtem lerntherapeutischem Nutzen und für alle beteiligten Angehöriogen eine beglückende Entlastung.
Mit einem Kernsatz möchte ich unsere heutige Mammutsitzung jetzt schließen: Wer viel und konzentriert tut, erreicht meist auch viel.
Interviewerin Frau B.:
Ja, das geordnete Üben – wenn ich es mir recht vorstelle – kann man organisieren, ich glaube schon. Ich freue mich auf das nächste Gespräch. Wann könnte das sein ?
Middeldorf:
Übermorgen, morgens um 9 Uhr. Geht das bei Ihnen ? Ja ? Fein.
Ach, noch etwas, planen Sie bitte folgendes ein. Ich werde die ganze übernächste Woche nicht im Zentrum sein. Wir machen übermorgen dann den nächsten Termin aus. Gute Nacht !
Comments are currently closed.