Interview 15: Aphasiegruppe und viel Sprechen
Erstellt am 16. September 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, Sie haben einmal gesagt, dass alle aphasisch Betroffenen, wenn Sie nach ihrem größten Wunsch gefragt werden, durchweg nur einen Wunsch formulieren, nämlich wieder sprechen können.
Wie gehen Sie mit diesem Wunsch um ? Wie gehen Sie darauf ein ?
Middeldorf:
Dieser Wunsch ist sehr verständlich, er drückt die mit Verlustschmerz verbundende Wunschvorstellung aus, dass alles so werden soll wie es früher war.
Das beschreibt etwas, was jedoch leider nicht möglich sein wird und gibt Hinweise darauf, dass Patient und Partner bisher wenig bis gar nicht aufgeklärt worden sind.
Ich gehe in einem meiner ersten Gespräche mit dem Patienten und Partner dann darauf ein.
„Sachlich betrachtet kann es faktisch nicht so werden wie früher, weil die Hirnnervenzellen im Bereich der Hirnschädigung abgestorben sind. Man kann sie nicht reparieren oder wiederbeleben; die sind und bleiben tot.
Vor dem Ereignis hatten Sie ein voll intaktes Gehirn, durch dessen neuronales Netzwerk die elektrobiochemischen Impulse ungestört schießen konnten. Heute haben Sie ein teil-intaktes Gehirn – quasi ein neuronales Netzwerk mit einem Loch. Drum herum ist das Gehirn aber lebendig.“
Ich versuche, nun den Betroffenen unter zwei Aspekten zu beschreiben, was wir in der Intensiv-Aphasietherapie für sie tun können.
Zuerst einmal unter dem Gesichtspunkt der Plastizität, dass wir nämlich durch gezieltes Lernen neue Hirnnervenleitungen in gesunden Hirnarealen wachsen lassen können. Dann gehe ich auf das längerdauernde Wachstum der Hirnnerven näher ein und auf das Erlernen und Üben neuer Funktionen und auf deren strikte Anwendung im Alltag, damit sich die „dünnen“ Nervenleitungen zu belastbaren, kräftigen Verbindungen ausentwickeln.
Ich habe in einem Interview an anderer Stelle gesagt, dass aufgrund der immensen Komplexheit der Folgen einer Hirnschädigung trotz intensivster Sprachtherapie bei den meisten Betroffenen eine komplette Wiederherstellung des prämorbiden Status bzw. des „So-Seins-wie-vorher“ nicht erreichbar ist und aus heutiger Sicht auch nicht sein wird.
Andererseits ist eine – ich bezeichne das einmal so – Annäherung an die früheren sprachlichen Leistungen durchaus denkbar, plan- und durchführbar, wobei wir aber immer berücksichtigen müssen, dass der hirngeschädigte Betroffene aufgrund des „Lochs“ im neuronalen Netzwerk auch auf anderen Gebieten als der Sprache bestimmte Defizite zeigt oder zeigen kann, weil in diesem Areal mit dem „Loch“ früher auch solche neuronale Leitungen gelegen haben, durch die Informationsflüsse schossen für kognitive, emotionsrelevante, motorische oder sensorische Leistungen. Die zeigen jetzt auch Defizite – neben der sprachlichen Symptomatik.
Von daher gilt die Annahme, dass aufgrund jeder Hirnschädigung nicht nur eine symptomdominante Sprachstörung auffällig ist, sondern dass auch andere Hirnleistungen gestört sein können.
Diese Vorbemerkung ist notwendig, um Ihnen die Komplexität noch einmal ins Bewusstsein zu rufen, mit der wir es bei den Folgen einer Hirnschädigung zu tun haben.
Nun, wie gehen wir mit dem spontan geäußerten Wunsch So sprechen können wie vorher um ? Einmal rational über das sachbezogene und fachlich begründete Aufklärungsgespräch, das zu neuen Einsichten und zu eigenen Schlussfolgerungen beim Patienten und den Angehörigen führen soll.
Des weiteren schenken wir ihm und den Angehörigen dringend besondere Aufmerksamkeit wegen deren persönlichen Leidensdrucks.
Mit starkem Engagement im Umgang mit dem Betroffenen während unserer gemeinsamen Arbeit wirken wir indirekt psychologisch positiv auf den Patienten ein.
Wir signalisieren ihm durch intensives Tun, dass wir sein Anliegen ernst nehmen und dass wir ihm dabei behilflich sein wollen, seinem Ziel, wieder besser sprechen bzw. kommunizieren zu können, näher zu kommen.
Und wenn wir uns als Profis authentisch engagieren, dann ist das für den Betroffenen ein klares Indiz dafür, dass doch etwas möglich ist. Und das ist an sich schon ein wichtiges Zeichen.
Lapidare, fast hilflos wirkende Tröstungsversuche wie „Das wird schon werden“ oder „Kopf hoch !“ oder „Sei froh, dass Du doch noch einiges kannst ! Anderen geht es viel schlechter ! Im Vergleich zu denen hast Du noch Glück gehabt !“ kennen wir nicht.
Obwohl sich die Früchte anstrengungsintensiver Arbeit nur in kleinen Fortschritten zu erkennen geben, spürt der Patient bereits nach ca. 2 Wochen intensivster Aphasietherapie mit täglich bis zu 5 logopädischen Sitzungen, dass „sich etwas tut“.
Und das ist so wichtig für einen engagierten Start eines größeren Projekts ! Denn das eigene Spüren von Veränderung ist das positive Stimulans, das den Betroffenen zu weiteren anstrengungsintensiven Veränderungen motiviert.
Wir können beobachten, dass positive Therapieresultate vom Patienten selbst mehr oder weniger deutlich wahrgenommen werden.
Interviewerin Frau B.:
Wie kommt das, dass die Wahrnehmung des Therapieeffekts als mal größer oder mal kleiner empfunden wird ?
Middeldorf:
Das hat etwas damit zu tun, mit welcher Anspruchs- und Erwartungshaltung und mit welchem Maß an Einsatzfreude der Betroffene in den Therapieprozess einsteigt.
Besonders ungeduldige Patienten nehmen das „Spüren der kleinen Fortschritte“ zunächst als selbstverständlich hin und erwarten schon bald die großen Entwicklungssprünge.
Doch leider macht ihnen die Langsamkeit des Neuwachstums von Neurozellen einen Strich durch diese Rechnung. Neuronale Zellen wachsen sehr langsam, was eine Ursache ist für die langdauernde Restitution von Sprache über Monate und Jahre ist.
Ich verfolge einen neuen Ansatz in der pragmatischen Aphasietherapie. Ich nenne ihn „das hochfrequente Sprechen“.
Mit diesem Ansatz erhebe ich in meinen Aphasie-Gruppensitzungen das hochfrequente Sprechen zu einem Therapeutikum, zu einem didaktisch-methodischen Prinzip, unter dem das Sprechen als neuronale Funktion und als Handlungsprozess konsequent stimuliert, aktiviert und abgerufen wird.
Durch intensive Stimulierung und durch die Aufforderung zum Abrufen eines sprecherischen Handelns wird der aphasische Patient dazu gebracht, erstens seine sprecherische Intiative zu entwickeln mit der neuropädagogischen Intention, auf „verschüttete“ Inventare des Sprechens zurückzugreifen, diese zu erinnern und die sprecherische Kompetenz zu mobilisieren und schließlich die Sprechinventare aktiv zu gebrauchen und zweitens, solche Sprechfunktionen neu zu erlernen, die momentan aus alten Inventaren nicht mehr abgerufen werden können. Kurz: Sprechkompetenzen wachrufen, Verlorenes durch Neulernen auffüllen.
Ich möchte das näher beschreiben:
Die artikulatorischen Bewegungsmuster, die wir in „hunderttausendmalig“ ausgeführten Sprechbewegungen des Mundes neuronal verankert haben, sind im artikulo-motorischen Inventar „abgespeichert“. Aber nicht nur die Bewegungen sind dort engrammiert. Da sind auch all die einhergegangenen, assoziativ abgespeicherten sprecherischen Klangmuster, die in all den früheren Sprechvorgängen über Jahre und Jahrzehnte produziert wurden – denken wir an den Gebrauch und den Einsatz der Sprechstimme und an die Prosodie. Der Gebrauch der Sprechwergzeuge erfolgt synchron mit Stimme und Stimmführung, mit prosodischer Betonung im Satz, mit der Unterlegung des Gesprochenen mit emotionalem Ausdruck, wie Freude, Ängstlichkeit usw.
Während des „hunderttausendmaligen“ Sprechens vor der Hirnschädigung verschmelzen die Aktivitäten der Sprech- und Stimmwerkzeuge im Zusammenhang mit all den prosodischen Merkmalen des Fragens, Befehlens, des Ausdrucks von Ärger oder Zärtlichkeit miteinander.
Die Muster des früheren, individuellen Sprechhandelns sind selbstverständlich auch mit semantischen, sprachsinnhaltigen Merkmalen eng verknüpft. Und diese unendlich komplexen Assoziationen sind tief im artikulo-motorischen und sprachklanglichen Gedächtnis abgelegt.
Das zeigt sich bei einem aphasischen Patienten letztlich in der Fähigkeit, ein „fehlerfreies“, spontanes Sprechen als automatisierte Handlung abzurufen, ohne im Moment des Sprechens dann über die Art und Weise des Sprechens nachzudenken.
Das geschieht meist bei situationsbezogenem Sprechen, bei dem das Erleben und Empfinden in dieser speziellen Situation das Stimulans zum Sprechen ist.
In diesen Momenten des Abrufens automatisierten Sprechhandelns ist zu beobachten, dass der spontan korrekt sprechende Mensch keinesfalls einzellautbezogene Artikulationsbewegungen isoliert hintereinander ausführt.
Nein, beim spontanen Sprechen verschleifen sich Laute, Silben, Wörter in einer sinnvollen Abfolge zu einer harmonischen sprachlichen Ganzheit.
Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch die Koartikulation – das gegenseitige Beeinflusstwerden der Lautbildung durch den vorher produzierten und durch den nachfolgenden Laut. Artikulo-motorische Verschleifungen und koartikulierte Verknüpfungen etablieren sich im Laufe des „hunderttausendmaligen“ Sprechens als muskulär-phonetisches Programm und werden als Sprechschema im motorischen Gedächtnis abgelegt.
Das Sprechen des aphasischen Menschen war also bis zum Ereignis ein in sich gut und fein strukturiertes Ganzes, das überwiegend unbewusst – was die Einzelbewegungen und die Art und Weise der Laut- und Silbengestaltung anbetrifft – floss.
Interviewerin Frau B.:
Welchen Einfluss hat diese Tatsache auf Ihre Aphasietherapie ?
Middeldorf.:
Das verdeutliche ich Ihnen an einem Therapiebeispiel. Es soll der Wiedererwerb der Lautierung eines Umlautes z.B. des /Ü/ erarbeitet werden.
Die Realisation des Phonems /Ü/ als phonetische Mischung aus /U/ und /I/ will u.U. trotz vieler Versuche in der Einzeltherapie nicht gelingen. Es gelingt das /Ü/ aber als Inlaut leicht bei dem Ausruf: Komm rüber ! (über die Brücke). Das /Ü/ ist hier eingebunden in den Bedeutungskontext (über den Bach), in den Sprachklang des Wortes herüber und phonetisch beeinflusst vom vorweg gebildeten /r/ und dem folgenden /b/.
Der aphasische Patient, auch der mit einer Sprechapraxie, bildet das /Ü/ innerhalb der Satzganzheit aufgrund der koartikulatorischen Beeinflussung überraschend korrekt, während einzelheitlich viele Bildungsversuche scheitern.
Ich erkläre das damit, dass die Koartikulation für die Bildung eines innenliegenden /ü/ als komplexes Phänomen motorisch-sprachklangspezifisch gespeichert ist.
Dieses Beispiel soll zeigen, dass selbst der aphasische Mensch mit Sprechapraxie – wenn er zum Sprechen von Ganzheiten animiert wird – durchaus einen Zugang zur Bildung des /ü/ finden kann.
Wenn wir also die Exekutiv-Funktion Sprechen aktivieren, dann ist es notwendig, die koartikulatorischen Gedächtnisspuren in „Erinnerung“ zu rufen.
Insofern stellt die Koartikulation m.E. einen interessanten Zugang bei der Reaktivierung von Sprechvorgängen dar.
Ich nehme auch an, dass das Sprachgefühl eine bedeutende Rolle spielt, wenn es darum geht zu spüren, ob eine eigene Aussage sprachlich „korrekt“ ist oder nicht.
Es ist an Hand der mimischen Rekationen beobachtbar, wenn der muttersprachlich- aphasisch Betroffene die Aussage „Ich bin Durst“ als falsch empfindet, auch wenn ihm die korrekte Alternative „Ich habe Durst“ nicht vorgelegt wird.
Er spürt, dass „Ich bin Durst“ der tiefsitzenden, eingewöhnten Grammatikstruktur widerspricht. So können wir davon ausgehen, dass sich regelkonforme Wort-Konstellationen mit grammatikalischen und syntaktischen Formen aufgrund deren häufigen Gebrauchs engrammiert sind und als Gedächtnisspuren vorhanden sind.
Ich leite daraus ab, dass mit Sprachgefühl, den koartikulatorischen Gedächtnisspuren und dem strukturierten Ganzen des Sprechhandelns Kompetenzen „im Verborgenen“ zur Verfügung stehen, die zu deren Aktivierung auf- bzw. abgerufen werden sollten. So stehen diese Kompetenzen für ein Restituieren von Sprechfähigkeiten dann zur Verfügung, wenn der therapeutische Lernprozess diese Kompetenzen evoziert.
Dazu sind m.E. sprech-sprachliche Stimuli dergestalt erforderlich, dass in vollständigen Sätzen hochfrequente Wortkonstellationen so angeboten werden, dass sie zum Sprech-Abruf Anlass geben. Dass diese Sätze möglichst sinntragend und verständlich sein müssen versteht sich von selbst, zumal auf die Stimulation sprachstrukturellen Denkens zu achten ist.
Kommen wir nun zurück zu den Kernfragen, die Sie mir gestellt haben:
Wie gehen Sie mit diesem Wunsch Wieder sprechen können um ? Wie gehen Sie darauf ein ?
Das tiefe Bedürfnis des Betroffenen, bald wieder zu den Sprechenden gehören zu können, steht an erster Stelle. Dem folge ich zunächst.
Er hat u.U. schon wochen-, monate- oder jahrelang mehr oder weniger sprachlos und hilflos nur mit sprachlichen Rudimenten seine sprecherischen Interaktionen gestaltet. Das zeigt „gelernte“ Folgen.
Wir müssen davon ausgehen, dass die „Fertigkeit“ des Sprechens an sich im Laufe der „sprecherischen Ruhezeit bei Aphasie“ aufgrund der aphasiebedingten Sprachproduktionsproblematik hat Einbußen hinnehmen müssen.
Wer wenig spricht der läuft Gefahr, das Sprechen verkümmern zu lassen.
Und der These folgend, wer mehr spricht, der gewinnt an sprecherischer Kompetenz, steigere ich in meinen Therapiesitzungen deutlich die Frequenz der Ingangsetzung und Durchführung von Sprechprozessen.
Dabei verlange ich von jedem Gruppenmitglied äußere wie innere Sprechprozesse gleichermaßen ab.
Während ein äußeres, hörbares Sprechen Aufschluss gibt über seine sprachproduktiven Kompetenzen, verläuft das innere Sprechen des Menschen „lautlos“.
Zwar wissen wir nicht, was und wie verzerrt der aphasisch Mensch innerlich sprechend denkt, doch gehe ich davon aus, dass er nach häufiger Präsentation eines vorgesprochenen Satzes diesen innerlich mit- bzw. nachsprechen kann.
Mit Lew Wygotski, dem russischen Entwicklungs- und Sprachpsychologen wissen wir seit 1925, dass sich das innere Sprechen aus dem äußeren Sprechen entwickelt. Das innere Sprechen weist ähnliche Strukturen auf wie das äußere Sprechen, syntaktisch z.T. verkürzt, wahrscheinlich semantisch verdichtet.
Wenn wir therapeutisch das äußere Sprechen anregen, dann stimulieren wir auch das innere Sprechen. Stimulieren wir das innere Sprechen durch lautloses, inneres Mitsprechen, z.B. beim lautlosen, inneren Mitlesen eines laut gesprochenen Satzes in der Gruppe, dann stimulieren wir auch das laute Sprechen.
Deshalb ist das innere Mitsprechen in meiner Arbeit unter anderem ein wichtiges Therapiemittel, worauf ich immer wieder hinweise.
In meinen Gruppensitzungen fordere ich die Teilnehmer stets auf, in dem Moment, in dem der andere laut sprecherisch am Zuge ist, innerlich mitzusprechen und die modellgebenden Signale meinerseits aufmerksam aufzunehmen und innerlich umzusetzen, während ich dem einzelnen Gruppenteilnehmer meine Korrekturhilfen gebe. Auf diese Weise erhoffe ich mir nicht nur eine neuropädagogische Einflussnahme beim Patienten sondern auch einen weitgehend durchgängigen, hohen Grad an Aufmerksamkeit aller Gruppenteilnehmer.
Grundsätzlich verfolge ich das Prinzip der geistigen Mitarbeit aller teilnehmenden Patienten, also aufmerksam jeden Arbeitsschritt zu verfolgen und so oft und so viel wie möglich leise in Sätzen mitzusprechen.
Bei diesem Mit-Tun und beim Laut-Sprechen ermuntere ich immer wieder die Teilnehmer dazu, bewusst ihre Mundwerkzeuge in Gang zu bringen, Sprechbewegungen übertrieben ausgeprägt durchzuführen und sich dabei auf den Sprachklang zu konzentrieren.
Auch gebe ich den Hinweis, stets daran zu denken, wie sie den Sprachklang früher hervorgerufen haben, um sich an die schlummernden Kompetenzen heranzutasten und auf diese Weise „alte“ Artikulationsmuster aufgerufen zu bekommen.
Schwer betroffene Sprechapraktiker fordere ich auf, zunächst die Vokale in den Wörtern heraus zu hören, diese zu differenzieren und während eines Satzsprechens quasi auf den Vokalen zu sprechen, die Konsonanten außer Acht zu lassen und primär das stimmliche Ganze nachzubilden.
Das führt im Laufe der Gruppenarbeit meist zu beobachtbaren, spontanen Vokalformungen während des Sprechprozesses. Das anfängliche „Vokalsprechen“ soll der Sprechapraktiker hochfrequent durchführen und das zu seinem „neuen“ Zugang und zu einem „neuen“ Gefühl für die korrekte Vokalbildung am richtigen Ort des Satzes zu entwickeln.
Später ist zu beobachten, dass sich aus dem vokalisierten Sprechen dann Ansätze der konsonantisches Lautbildung ergeben. Danach werden während des Sprechflusses auf Sprachklangbasis dezente Konsonantenbildungen, selbst Konsonantencluster erkennbar, die in diesem Moment auf „normale“ Bewegungen der Artikulationswerkzeuge zurück zu führen sind.
Interviewerin Frau B.:
Ich versuche dem zu folgen. Was ich verstehe ist, dass Sie das gesamte Sprachsystem, was in dem Menschen steckt, versuchen mit Hilfe der Sätze zu stimulieren und erwarten dann, dass die Patienten im Laufe des Trainings ihr Sprechen verbessern.
Middeldorf:
Genau so ist es. Dabei achte ich darauf, dass sich die Sprechbewegungen bei jedem Einzelnen der Fehlerfreiheit annähen. Dazu passe ich meine Korrekturhilfen dem jeweiligen Patienten so an, dass er mit mehr oder weniger Hilfestellung meinerseits den behandelten Satz weitestgehend modellgetreu sprechen kann. Ich spreche von „fehlerfreien Sprecherlebnissen“, die ich für jeden meiner Gruppenpatienten einleite.
Interviewerin Frau B.:
Ich stelle mir vor, dass Ihre Patienten mit Ihrer Hilfe nun diese „fehlerfreien Sprecherlebnisse“ erfahren. Sie helfen ihnen therapeutisch und ganz individuell , um dahin zu kommen. Aber was tun Sie, um die Patienten letztlich zu eigenen „fehlerfreien Sprecherlebnissen“ ohne therapeutische Fremdhilfe zu bringen ?
Middeldorf.:
Das hochfrequente Hören und das massierte, möglichst fehlerfreie Mit- und Eigensprechen des Satzes führt zum Einschleifen des weitestgehend korrekt gesprochenen Satzes.
Dabei wirkt das klangbezogene-modellgebende Vorsprechen als Stimulans. Der aphasische Patient nimmt den Satz als Klanggestalt wahr, durch oftmalige Wiederholungen speichert er diesen als Klanggestalt und speichert diesen, bis er ihn mit Hilfe fehlerfrei abruft.
Satzklang und Sprechbewegungen werden zu einer Satzganzheit assoziiert. Und durch oftmaliges Ausführen der korrekten Sprechbewegungen in den unzähligen Wiederholungen werden die relevanten Sprechbewegungen sowie deren Klang einerseits immer wieder aus dem aktivierten Sprachklanginventar aufgerufen und andererseits umgekehrt im Gehirn neu gebahnt und neuronal verankert.
Wenn der Patient das Sprechen später ohne therapeutische Hilfe können soll, dann muss das so oft geschehen, bis sich die Sätze als Klangbilder und spezielle Bewegungsmuster im Gehirn festgesetzt und eingeprägt haben. Denn erst dann sind die Grundlagen für eine selbstgesteuertes Training „in Eigenregie“ geschaffen.
Zu beobachten ist, dass die aphasischen Patienten bei sogenannten Versprechern spüren, dass da etwas nicht korrekt war. Ob letztlich das kinästhetische Rückmeldesystem dabei entscheidend mitwirkt oder ob die Abweichung der gerade produzierten Satzklanggestalt von der korrekten, eingeprägten abweicht und das auditorische System die Divergenz meldet – Tatsache ist: der Patient lernt im Laufe der Zeit , sein Sprechprodukt auf „Richtigkeit“ hin zu überprüfen.
Und wenn er zwischen falsch und richtig unterscheiden kann und sich weitestgehend selbst helfen kann, dann braucht er an diesem Punkt eigentlich keine therapeutische Hilfestellung mehr – allenfalls therapeutische Kontrollen.
Interviewerin Frau B.:
Das ist nachvollziehbar. Nun interessiert mich aber die praktische Seite des Ganzen. Wie bringen Sie das den Patienten in Ihrer Gruppe bei ?
Middeldorf:
In meiner Aphasiegruppe habe ich drei Intentionen:
Die erste ist die Gewinnung der Einsicht und Überzeugung eines jeden aphasischen Patienten, dass es überhaupt möglich ist zu lernen, besser zu sprechen.
Die zweite Intention ist, jedes Gruppenmitglied in der mehrwöchigen Gruppenarbeit dahin zu bringen, dass es die geübten Sätze tatsächlich, messbar besser sprechen kann.
Die dritte Intention ist das Aktivieren und Verbessern sprachlicher, neuropsychischer Grundfunktionen. Das sind : Aufmerksamkeit, auditorische Wahrnehmung, Verarbeitung und Speicherung bezogen auf Satzklanggestalten, visuelle Wahrnehmungen bezogen auf Buchstaben, Wortbilder und Satz-Schriftbilder, Ausdauer beim Arbeiten.
In meiner Aphasie-Gruppentherapie setze ich grundsätzlich audio-visuelle Arbeitsmedien ein. Dabei greife ich zurück auf logopädische Videos, die im Laufe der letzten Jahre maßgeblich hier im LogoZentrum Lindlar entwickelt und von der VMS GmbH Lindlar unter dem Label Logomedien produziert werden
Jedes Logovid zeigt Video-Szenen aus dem Leben. Es zeigt markante Handlungen, die in Satzstruktur beschrieben werden.
Interviewerin Frau B.:
Wie sieht eine Gruppensitzung konkret aus ?
Middeldorf:
Zuerst schauen wir uns eine Video-Szene zweimal an. Die Videoszene ist mit dem dazu gehörigen Satz schriftlich und gesprochen unterlegt, so dass der Video-Betrachter die Bedeutung des Szenen-Satzes durch die Filmbilder verdeutlicht bekommt und gleichzeitig den Sprachklang und das Schriftbild verfolgen kann.
Dann wiederhole ich 5 bis 10 mal den Szenen-Satz, bewusst langsam und deutlich artikuliert, mal Wort-für-Wort- sprechend, dann etwas schneller, mit leicht veränderter Prosodie aber normaler Stimmführung beim Sprechen.
Die Gruppenteilnehmer sind aufgefordert, hierbei nur zuzuhören und den Sprachklang des Satzes innerlich aufzufangen und sich immer mehr zu eigen zu machen und dann auch innerlich klingen zu lassen.
Sie sollen sich das Satzklangbild merken. Sie sollen es sich einprägen, um es später zu erinnern und reproduzieren zu können.
Dabei schauen die meisten konzentriert auf einen Punkt im Raum oder auf den Tisch.
Während dieses Hörens und auditiven Einspeicherns des Satzes können die Patienten den Satz auch leise aus dem ausgeteilten Begleittext mitlesen.
Nach dem konzentrierten Zuhören – was übrigens alle Patienten beobachtbar erstaunlich intensiv betreiben – sprechen alle Patienten zusammen mit mir diesen Satz drei Mal. Beim dritten Mal sollen sie nun besonders auf eine „fehlerfreie“ Aussprache achten.
Die schwer betroffenen Sprechapraktiker unter den Aphasikern bekommen den Auftrag, wie ich eben schon erwähnt habe, sich primär auf die Vokal-Klänge im Satz und auf die Satzstruktur zu konzentrieren. Dabei sollen sie den Satz ohne Konsonantenlautbildung nur „mit den korrekten Vokalen“ mitsprechen.
Nach der Phase des gemeinsamen Sprechens bitte ich dann jeden Gruppenteilnehmer einzeln der Reihe nach, mit mir gemeinsam den Satz zu sprechen. Damit die übrigen Gruppenmitglieder weiterhin Stimulationseinwirkung bekommen, weise ich alle anderen darauf hin, während meiner „Einzelarbeit mit jedem Einzelnen mit den persönlichen Einzelkorrekturen“ diesem Geschehen höchste Aufmerksamkeit zu schenken, aufmerksam zuzuhören und innerlich sprecherisch dem zu folgen, was der Einzelne aufgrund meiner an ihn gerichteten Hinweise spricht. Und das ist der Modell-Satz.
Nach dieser Sprechrunde mit „individuellen“ Korrekturen bei jedem einzelnen Gruppenteilnehmer sprechen wir abschließend gemeinsam wiederholt noch drei – bis viermal den Satz, bis die Gruppe unisono weitestgehend homogen klingt und ich per Sichtkontrolle keine gravierenden Abweichungen bei den Sprechbewegungen der Gruppenteilnehmer mehr feststellen kann.
Dann – nach einer kurzen Pause – beginnt die Einstimmung auf den nächsten Satz.
In einer 45-minütigen Gruppensitzung werden in der Regel 3, bei kürzeren Sätzen, d.h. „einfacheren“ Sätzen mit SPO-Struktur ohne Ergänzungen auch 4 Sätze geschafft.
Bei dieser Arbeitsfrequenz hören die Patienten einen Satz jeweils rund 15 – 20 mal und sprechen diesen laut – allein und/ oder mit den anderen zusammen – insgesamt rund 10 – 15 mal. Dazu kommt die Frequenz des inneren Mitsprechens, was ich auf mindesten 10 mal veranschlage.
Insgesamt beläuft sich also die Stimulation zum auditiven Wahrnehmen, zum zentralen Verarbeiten und zum Sprechen der Sätze auf insgesamt rund 30 Mal pro Satz.
Meine Hauptanliegen in dieser multisensorisch ansetzenden Gruppenarbeit ist die massierte Stimulierung eines jeden Patienten zur besseren Aufmerksamkeit in der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung, zum Realisieren bzw. Verständnisaufbau des semantischen Zusammenhangs zwischen der gesehenen Handlung und deren Versprachlichung, zur Aktivierung des Sprechvorgangs nach mehrsensorischer Stimulation und Verarbeitung der gesprochenen Sprache.
Vielleicht kommen wir später noch auf die dabei mitlaufend auftretende Mobilisierung der Konvertierung beim ganzheitlichen Lesen zu sprechen.
Interviewerin Frau B.:
Gern. Doch zunächst interessiert mich, welche Ergebnisse sie erzielen ?
Zeigen die Patienten nach den Aphasiegruppensitzungen messbar bessere Sprechleistungen ?
Middeldorf:
Das ist eine berechtigte Frage, die ich jetzt noch nicht mit Ja oder Nein beantworten kann. Uns fehlen zur Zeit noch die finanziellen Mittel, um mit wissenschaftlichen Mitteln die Wirksamkeit dieses Vorgehens untersuchen und deutlich machen zu können.
Beobachtbar ist jedoch, dass sich diese Gruppenarbeiten in der Patientenmeinung generell positiv auswirken. Sie geben mir auf meine Frage, warum sie diese Gruppenarbeit als zielführend bewerten, mehrheitlich die Antwort, dass sie das hochfrequente, konkrete Sprechen zusammen mit den gleichzeitigen Sprech-Korrekturen meinerseits als für sie sehr wichtig empfinden.
Ich sehe auch in der Tatsache, dass mich einige sehr eifrige Patienten um die gerade benutzte DVD für eigenes Üben in der therapiefreien Zeit bitten.
Ich werte dieses Interesse als Zeichen für die Wirksamkeit dieses Vorgehens bei einigen.
Es macht den Patienten offensichtlich Freude zu erleben, dass sie durch ein spezielles Übungsdesign angeregt werden sprecherisch aktiv zu werden, das eigene Sprechen zu verstärken und zu verbessern.
Für mich ist das ein Indiz dafür, dass der Patient spürt, dass sich da etwas Positives entwickelt. Für mich als Therapeut ist das ein positives Zeichen für einen wirksamen Einsatz dieser Methode.
Da in Abschlussmessungen ja die Gesamtwirkung aller therapeutischen Einzelsitzungen, der 2-Patienten-Sitzungen und der Gruppensitzungen in unserem Hause während des mehrwöchigen Aufenthaltes in Lindlar gemessen wird, kann ich aus den bei uns üblichen Screenings zu Beginn und gegen Ende eines Intensivtherapieaufenthaltes leider keine differenzierte Aussage über eine messbare Wirksamkeit speziell meiner Gruppenarbeit ableiten.
Aber wichtig ist mir, dass ich dem Wunsch der Patienten, wieder sprechen zu können, in dieser sprechorientierten Gruppenarbeit entgegen komme.
Interviewerin Frau B.:
Dieser Einblick in Ihre Aphasie-Gruppenarbeit war sehr interessant.
Middeldorf:
Ach, was ich ergänzend hinzufügen möchte, um es nicht untergehen zu lassen, ist :
Die Arbeitsprozesse in der Gruppe dienen auch dazu, in jedem Patienten Prozesse der selbst initiierten Aktivierung und Anpassung zu provozieren.
Zeigt der Patienten am Ende der Gruppenarbeitsphase eine deutlich wahrnehmbare Verbesserung der eigenen Satz-Sprechleistung, dann drückt das die Annäherung des eigenen Sprechens an das fehlerfreie Modell aus. Ein großer Schritt !
Interviewerin Frau B.:
Ja, das glaub ich auch.
Es war wieder einmal sehr, sehr interessant. Es kommen mir weitere Fragen, die ich Ihnen auch gerne stellen würde, wenn Sie überhaupt so viel Zeit für mich erübrigen können ?!
Middeldorf:
Gern, aber bitte erst übermorgen, um die gleiche Zeit.
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