Das Sprechen wiedergewinnen – ein neues Prinzip – ein geeigneter Weg aus der Misere
Erstellt am 2. Juni 2021
von Dr. Volker Middeldorf, Lindlar
Immer mehr aphasisch Betroffene, aber auch Sprachtherapeutinnen und Sprachtherapeuten suchen nach einem probaten Weg aus der Misere, nicht sprechen zu können.
Jede aphasisch betroffene Person hat den Wunsch, wieder „normal“ sprechen zu können. Die meisten wären zufrieden, wenn das Sprechen wenigstens hinreichend gut funktionieren würde.
Viele Aphasiker freuen sich, wenn sich die Sprachtherapie nicht nur mit dem Sprachsystem, also dem Sprachverständnis, der Wortfindung oder dem Lesen beschäftigt, sondern sich darüber hinaus auch schwerpunktmäßig mit dem Sprechen befasst.
Wir wissen aus Studien, dass häufiges, therapeutisch gelenktes und fehlerfreies Sprech-Handeln aphasie-therapeutisch wertvoll ist und sprach- und sprech-restituierende Wirkung erzielt.
Doch ist leider Fakt, dass 2 bis 3 Therapiesitzungen pro Woche zu wenig sind für eine wirkungsvolle Restitution des Sprechens nach Schlaganfall.
Weil ein erfolgreiches Restituieren des Sprechens bei Aphasie bisher wenig untersucht worden ist und weil Therapieverfahren nicht bekannt sind, die auf pragmatischem Wege die Verbesserung des aphasie-belasteten Sprechens anzielen, möchte ich deshalb hier ein Lern-Prinzip vorstellen, was sich gezielt mit dem Thema Restitution des Sprechens (abgehoben von Sprache) beschäftigt und einen therapiedidaktischen Zugang dazu liefert.
Das Lern-Prinzip heißt „polimodales, multisensorisches Lernen von Sätzen“, kurz PmL-S. Dieses Lernprinzip wurde von mir bisher in Hunderten von aphasiegruppentherapeutischen Sitzungen als strukturierendes Therapiemittel angewandt und im Laufe der Zeit zu einem therapiepraktischen Verfahren entwickelt.
Zur Evaluation der konkret durchgeführten Gruppentherapien werden drei Beobachtungs- und Beurteilungsparameter herangezogen:
Die Eigenbeurteilung der aphasischen PatientINNen in Bezug auf die Wirkung der Lernprozesse zur Veränderung des Sprech-Prozesses,
die beobachtbaren Veränderungen des Sprecher-Verhaltens vor und nach einer Lernsequenz (Verhaltensbeobachtung) und
die Patienten-Motiviertheit, posttherapeutisch zu Hause den hier begonnenen Sprech-Lernprozess fortzusetzen (empfundene Lerneffizienz).
Zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen ist Erfahrung aus aphasiethera-peutischer Gruppenarbeit hilfreich.
Das PmL-S-Lernprinzip baut auf Polimodalität sprachlicher Lernstimuli und auf Multisensorität beim Wahrnehmen und Verarbeiten der Sprachstimuli durch die aphasisch Betroffenen auf.
Polimodale Sprachstimuli zeigen bewegte Bilder (Videoszenen), die gleichzeitig inhaltsbeschreibende Versprachlichungen (Sätze zum Hören und zum Mitlesen) präsentieren.
Die aphasisch Betroffenen nehmen diese polimodalen Sprachstimuli mehrsensorisch (handlungsverstehend, die inhaltsbeschreibenden Sätze hörend und lesend) auf und verarbeiten diese kognitiv und assoziativ.
Das PmL-S-Lernprinzip habe ich im Rahmen der Intensiv-Sprachtherapie des LogoZentrums Lindlar als Gruppentherapie-Inhalt für aphasische Patienten im Laufe der vergangenen 10 – 15 Jahre entwickelt.
Es entstand aus dem Bemühen, ein Sprech-Therapieprogramm zu kreieren, was den Wünschen von 98 % der befragten aphasisch Betroffenen entgegenkommt, die auf die Frage, was ihr persönliches Therapieziel sei, mit „Wieder sprechen können“ antworten.
Das Gruppentherapieziel lautet: Neulernen eines fehlerfreien Sprechhandelns.
D.h. konkret, jedes Gruppenmitglied soll am Ende einer Gruppensitzung zu drei Video-Handlungen die drei Sätze weitestgehend fehlerfrei sprechen. Das geschieht bei dem einen auf Wortebene, bei dem anderen auf Satzebene. Wichtig ist, dass die Wörter des Satzes oder der ganze Satz für Fremde verständlich und fehlerfrei gesprochen werden.
Didaktisch-methodisch erfordert das eine neuropädagogische und pragmatische Hinwendung zu jedem individuellen Sprechvorgang bei jedem einzelnen Aphasie-Gruppenmitglied.
Folgendes Vorgehen hat sich als praktikabel und zielführend bewährt:
Um jedes Gruppenmitglied während der Gruppensitzung seinem fehlerfreien Sprechhandeln näherzubringen, bedarf es dreier Arbeitsschritte.
Der erste Arbeitsschritt dient zunächst der Einstimmung aller. Es ist die Phase des multisensorischen WAHRNEHMENS und VERARBEITENS [ca.3–5 Minuten]
In dieser Einstimmungsphase wird ihnen eine ausgewählte Video-Handlung oftmals (meist 12 mal) präsentiert, die sie sich anschauen, wobei sie dann simultan den handlungsbeschreibenden Satz hören und lesen.
Dabei heißt die Arbeitsaufgabe: „Hören Sie sich in den Satz hinein und achten Sie auf den Sprachklang, den sollten Sie sich merken, weil wir den zum Sprechen brauchen. Schauen Sie darauf, wie dieser Satz genau die Handlung beschreibt. Lassen Sie dabei auch die Schrift auf sich wirken und scannen Sie diese und erinnern Sie sich daran, wie die Schrift gesprochen klingt und wie das Gesprochene geschrieben ist.“
Die Einstimmungsphase dient auch dem assoziativen Erinnern an das Sprechen und an Sprech-Vorgänge. Wir sprechen hier vom Triggern der Sprachkompetenzen, dem neuronalen Erregen sprachlich-sprecherischer Informationen, die sich durch bestimmte Hirnaktivitäten aufrufen bzw. erinnern lassen.
Nach dieser Einstimmungsphase folgt der zweite Arbeitsschritt, die Phase des ERLERNENS und REALISIERENS eines neuen Sprech-Handelns (Zeitbedarf für jedes Gruppenmitglied im Schnitt 3 Minuten), in der konzentriert wahrgenommen, kognitiv verarbeitet und auditiv gespeichert werden soll.
Zunächst erfolgt das gemeinsame dreimalige Unisono-Sprechen dieses Szenen-Satzes. Das ermuntert jedes Gruppenmitglied zum sprecherischen Mitmachen.
Daran schließt sich die SPRECH-RUNDE an.
Jedes Gruppenmitglied spricht einzeln den Satz. Die Gruppenleitung gibt individuelle sprechunterstützende Hilfestellungen. Die therapeutische Handlungs-Führung und Verhaltenslenkung findet so lange statt, bis die sprechende Person ein mindestens fehlerfreies Sprechhandeln auf Wortebene (Wort-für-Wort) realisiert.
Damit sich für die Gruppenmitglieder die Zeit, in der sie gerade das sprechaktive Gruppenmitglied beobachten, nicht als verloren darstellt, bekommen alle TeilnehmerINNEN die Aufgabe, dem Geschehen konzentriert zu folgen, fokussiert auf den Sprachklang zu achten und innerlich das Sprechen nach- bzw. mit zu vollziehen. Ihnen wird erklärt, dass sie bei diesem „inneren Mitsprechen“ ihr Sprach- bzw. Sprechnetzwerk zielorientiert beschießen und auf diese Weise das fehlerfreie „laute Sprechen“ planungs- und übungstechnisch neuropädagogisch vorbereiten.
Dabei sollen sie als hörende Beobachter hochkonzentriert den Satz-Sprachklang fokussieren und den Sprachklang speichern, diesen immer wieder innerlich nachvollziehen, innerlich mitsprechen und diesen letztlich im Gedächtnis behalten. Dadurch fördern sie ihre auditive Klang-Speicher-Funktion, was positiven Effekt ausübt auf die Nachsprech-Fähigkeit.
Die SPRECH-RUNDE endet, indem die GL nun zu einem abschließenden Unisono-Sprechen des behandelnden Satzes aufruft.
Jetzt schließt sich der dritte Arbeitsschritt an, die Phase des VERTIEFENS des NEUEN SPRECH-HANDELNS im dialogischen Format.
Wenn neuronale Verankerungen erreicht werden müssen [durch Einprägen, Auswendiglernen], dann geht es bei aphasisch Betroffenen nicht ohne extrem häufiges Wiederholen bestimmter Sprech-Handlungen (siehe z.B. CIAT).
Übungswirkung mit Wiederhol-Formen hat konsequent fehlerfreies Satz-Sprechen in dafür vorgesehenen Übungs-Sitzungen [empfohlen nicht länger als 15 Minuten], ein fehlerfreies Beschreiben von Szenenbildern (im Handbuch) im Wortlaut des Satzes, ein wiederholt fehlerfreies, lautes Lesen der Sätze, das fehlerfreie Beantworten von Fragen zu Satzinhalten im Wortlaut des Satzes [Einprägen und neuronales Verankern des fehlerfreien Sprech-Handelns].
Die Gruppenmitglieder beantworten i.a. einzeln [selten situativ auch gemeinsam unisono] jede Frage konsequent nur im Wortlaut des kennengelernten Satzes. Dabei verfolgen wir die Festigung der gelernten Sprachinhalte und die neuronale Verankerung der „neuen“ fehlerfreien Sprech-Handlungen. Die Frage-Antwort-Konversation dient darüber hinaus der Einstimmung auf zukünftig dialogische Interaktionen.
Dann geht es weiter mit der nächsten Video-Szene und der Erarbeitung des nächsten fehlerfreien Satzsprechhandelns mit gleichem Strukturmuster.
So sieht zur Zeit die pragmatisch-interaktive Aphasietherapie in der Gruppe aus.
Wir beobachten, dass die therapeutische Einleitung fehlerfreier Sprech-Handlungen bei allen aphasisch Betroffenen eine Neu-Wahrnehmung in Bezug auf das eigene sprecherische Handeln in Gang setzt.
Weil sie dabei offenbar überrascht positive Erfahrungen machen und darüber berichten, dass „sich da im Kopf und beim Sprechen etwas bewegt“, fragen viele Betroffene nach Übungsmaterial, was ihnen im Sinne der erlebten Sprech-Therapie weiterhelfen kann und mit dem sie zu Hause in Ruhe das Gelernte nacharbeiten und vertiefen können.
Im Rahmen der Intensiv-Therapie im LogoZentrum Lindlar haben sich über Jahre die polimodalen Arbeitsmittel namens Logovid® (von LogoMedien®) sehr bewährt und durchgesetzt. Das sind logopädische Videos, die aus der aphasietherapeutischen Arbeit heraus entwickelt wurden und deshalb genau auf die Sprech-Bedürfnisse der aphasisch Betroffenen eingehen.
Logovids® sind evidenzbasiert. Ihre Evidenz ist in diversen Therapie Wirksamkeitsstudien in unserem Hause eruiert und bestätigt worden. Mit ihrer erwiesenen Wirksamkeit bereichern die Logovids® sowohl die professionelle Aphasie-Therapie als auch das häusliche Training der aphasisch Betroffenen.
Wiederholendes, geordnetes Üben
Wird nun dieses so erarbeitete fehlerfreie Sprech-Handeln hochfrequent wiederholt, dann entwickeln sich daraus – neuropädagogisch betrachtet – Neueinträge der fehlerfreien Sprech-Handlungen in gesunden Sprachnetzwerken in anderen Hirnarealen – außerhalb des „neuronalen Lochs“ im Sprach-Netzwerk.
Neuropädagogisch bewirkt jedes Wiederholen der fehlerfreien Sprech-Handlung einen intensiven Beschuss mit elektrobiochemischen Impulsen in den dazu relevanten Nervenbahnen und in den vorhandenen Nervenverbindungen.
Die Resultate kennen wir aus der Trainings-Arbeit:
Das fehlerfreie Sprechhandeln wird zunächst „erarbeitet“, dann durch Wiederholungen und massiertes Tun verinnerlicht und stabilisiert. Dann zeigt es – bei konsequentem fehlerfreien Sprech-Einsatz – zunehmend Geläufigkeit – das Sprechen wird schließlich ein kontrolliertes Geschehen aus einem Konglomerat von automatisierten, fehlerfreien Sprech-Abläufen.
Dazu verhelfen die Logovids®. Die können vielseitig eingesetzt werden, als Vorsprecher, als Vorleser, als Fragender, als Erzähler.
Die Logovids® sind bei der Erarbeitung des fehlerfreien Sprechhandelns lernwirksam und daher geeignet – nach Erklärung und Einführung in die Handhabung – von aphasisch betroffenen Personen selbstständig zu eigenen Lern- und Übungszwecken genutzt zu werden.
Ausblick
Mit dem Lern-Prinzip PmL-S in Kombination mit den Logovids® haben wir einen Weg gefunden, auf dem wir fehlerfreies Sprech-Handeln erarbeiten und fehlerfreie Sprecherlebnisse generieren können.
Um das hohe Ziel des alltagstauglichen, fehlerfreien Sprechen-Könnens zu erreichen, benötigt jeder aphasische Mensch seinerseits viel mehr Übungs-Zeit über die übliche Therapie-Zeit hinaus sowie „Trainings-Kompetenz“. Trainings-Kompetenz ist das Wissen, wie warum Training notwendig ist und wie Training geht.
Trainings-Ziel, Trainings-Plan, Trainings-Intervalle, Trainings-Niveau, Trainings-Dauer usw. sind Elemente eines kompetenten Trainings-Geschehens.
Wie das Training des fehlerfreien Sprechhandelns aussehen kann, dass zeigen die zu jedem Logovid® gehörenden Handbücher. Die enthalten konkrete therapie-didaktische Handlungsvorschläge zur Einleitung und Durchführung bestimmter operationaler Übungen.
Intensive Lernarbeit mit Schwerpunkt „fehlerfreies Sprechen“ hat mitlaufend intensive, restitutive Wirkung in allen Bereichen der Sprache (beim Sprachverständnis, beim Lesesinnverständnis, beim lauten Lesen, beim Wort- und Satzverständnis, in der Wort- und Satzfindung sowie bei neuropsychischen Leistungen wie Konzentration, Flexibilität, Vigilanz, Gedächtnis, Fantasie u.a.)
Neuropädagogisch betrachtet triggert viel und oftmaliges fehlerfreies Sprechhandeln die Sprach- und Sprechkompetenzen, und die trainingsmäßigen Wiederholungen von Sprachinhalten dienen dem multisensorischen Memorieren (Einprägen, Behalten von Neu-Verhalten, Neueintragungen in intakten Hirnarealen, Auf- und Ausbau der Sprach-Netzwerke).
Die trainingsmäßigen Wiederholungen neu gelernter Sprech-Handlungen führen neuropädagogisch betrachtet zum elektrobiochemischen Beschuss der relevanten Sprach- und Sprech-Nervenbahnen. Das dabei oftmalig stattfindende Durchströmen der elektrobiochemischen Nervenimpulse führt zu Wachstum und Stärkung der Nervenbahnen und dadurch zu Verbesserungen des Zusammenspiels der unterschiedlichen Nervenimpulse des sprachlichen Netzwerks – was der Mensch dann als „leichteres Tun“ empfindet.
Wir können feststellen, dass mit dem PmL-S und dem Lernen mit dem Logovid® für aphasisch Betroffene und Sprachtherapeutinnen und Sprachtherapeuten ein neuer Weg zur Restitution des aphasischen Sprechens gefunden ist.
Unsere 30jährige Erfahrung mit der Lindlarer Intensiv-Aphasietherapie bestätigt,
dass auch das „aphasische“ Gehirn plastisch ist, dass jeder hirngeschädigte Mensch lernfähig ist und dass der Verlust von Sprache durch Neulernen sprachlicher Funktionen kompensiert werden kann.
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