Interview 13: Intentionale und funktionale Lernprozesse – Lernhindernisse abbauen
Erstellt am 2. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, Sie erwähnten vor einiger Zeit kurz einen Punkt, über den, wie Sie sagen, in der Fachwelt bedauerlicher Weise wenig publiziert wird, obwohl er für die Qualität und Effizienz der Sprachtherapie kolossal wichtig sei: die Lernhindernisse.
Mich interessieren dazu nähere Einzelheiten.
Middeldorf:
Ja, das ist in der Tat für mich ein bedeutender Punkt.
Über ein Lernhindernis haben wir uns ja schon unterhalten, das ist die Vergessensrate von einer Sitzung zur anderen Sitzung.
Mit Lernhindernissen meine ich alle negativen Faktoren, die die Lern- und Behaltensprozesse bremsen, die die sprachlich Betroffenen von ihrem therapeutischen Lernen ablenken und die ein effektives Lernen sogar verhindern.
Jetzt entführe ich Sie in die therapiepädagogische Welt des Lernens, in das intentionale Lernen und in das funktionale Lernen.
Von Seiten der Therapeutin findet intentionales Therapieren statt, weil sie auf bestimmtes Zielverhalten hin therapiert. Somit leitet sie intentionales Lernen bei ihrem Patienten ein.
Die Folge ist, dass die Veränderungen im Sprachverhalten des Patienten auf das gezielte, methodisch durchdachte Vorgehen der Therapeutin zurück zu führen ist. Generell werden positive Verhaltensveränderungen, die alle Beteiligten selbstverständlich erfreuen, prinzipiell und meist auch berechtigterweise auf die intentionalen, gezielten Beeinflussungen durch die Therapeutin und auf ihr geplantes, inhaltliches Vorgehen zurückgeführt.
Andererseits müssen wir feststellen, dass es auch sogenannte funktionale, nicht beabsichtigte, mitlaufende Lernprozesse gibt.
Das sind auf Seiten des Patienten all die Wahrnehmungs- und Denkprozesse, die ihn aufgrund lernbegleitender Reizsignale vom eigentlichen intentionalen Lernen ablenken. Diese meist außerhalb des engen Therapiegeschehens Reize üben auf das Denken und Fühlen des Patienten einen ablenkenden, d.h. negativen Einfluss aus. Da wir Therapeuten die Wahrnehmungen des Patienten kaum mitbekommen, können wir auch nur sehr schwer etwas dagegen tun.
Positive Lernbedingungen versuchen wir durch intentionale Akzentsetzungen im therapeutischen Lernen zu erreichen und nach psychologischen Empfehlungen vorzugehen: Freundliche Ansprache des Patienten, ihn nach seinem Wohlbefinden befragen, Zeit und Ruhe für ein Gespräch haben, positive Verstärkung bei erwünschtem Verhalten geben, klare Informationen geben, Rückmeldungen deutlich formulieren usw., usw.
Aber es gibt eben auch die funktionalen Hemmfaktoren, die für die Therapeuten meist im Verborgenen bleiben. Exemplarisch für lernhemmende Begleitumstände nenne ich die Angst vor dem Versagen, Ablenkungsreize wie Personen, Geräusche, Gerüche usw., Frustrierung durch fehlende Erfolgserlebnisse, wenig affektive Qualität der Therapeuten-Patienten-Beziehung, aufgrund z.B. negativer Vorerfahrungen oder aufgrund einer gewissen Antipathie zwischen Patient und Therapeut, oder die den Lernprozess störenden Umstände wie Müdigkeit, psychischer Druck von Angehörigen, Existenzunsicherheit, Zukunftsangst, eine tiefgehende Unzufriedenheit usw., usw., unter denen der Patient eigentlich intentional lernen sollte.
Ich halte es für notwendig, darüber intensiver nachzudenken, um sich dafür zu sensibilisieren und diejenigen Umstände besser bei diesem Patienten erkennen und entschärfen zu können, die das intentionale Lernen konterkarieren.
Deshalb ist es angeraten, bei der Suche nach den besten Therapieschritten uns stets auch den Blick für die Lernhindernisse zu schärfen, die man beim Patienten ausfindig machen kann.
Die breite Fülle an Begleitumständen der Therapie, das komplexe Drumherum der Therapie, löst ständig funktionale, nicht-intendierte geistige Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse im Patienten aus. Selbst solche, für uns als völlig selbstverständlich erscheinende Umstände wie der Therapiezeitpunkt oder die Sitzungszahl pro Woche, die Therapeutenzuweisung oder ablenkende Gespräche auf dem Flur und andere Umstände, können für Patienten gravierende Störfaktoren im konzentrierten, intentionalen Lernprozess sein. Die Ablenkung ist der Feind des konzentrierten Lernens.
Interviewerin Frau B.:
Man kann doch das intentionale Lernen durch bewusste Gestaltung der Kommunikation intensivieren. In einem Psychologie-Seminar haben wir mal den Themenbereich „Hörerbezogener Vortrag“ behandelt. Da ging es um die interessante Gestaltung eines Vortrags. Da wurden Begriffe wie positive Atmosphäre schaffen, partnerschaftliche Interaktion zwischen Referent und Zuhörern, „fesseln“ der Zuhörerschaft durch interessante Beiträge wie auch über Anwendung rhetorischer Regeln usw. Also – es gibt schon markante Mittel, um die Aufmerksamkeit der anderen zu steigern.
Ich stelle mir vor, dass Ähnliches in der Sprachtherapie auch angestrebt wird.
Middeldorf:
Selbstverständlich. Doch neben diesen positiven und wichtigen Gestaltungsüberlegungen sollte meines Erachtens das Bewusstsein ständig hinsichtlich der funktional-mitlaufenden Störreize geschärft werden. Wir können das beispielsweise in Gesprächen mit dem Patienten tun und von Zeit zu Zeit ihn nach seinen persönlich empfundenen „Ablenker“ oder „Lernhemmnisse“ befragen. Dazu erbitten wir ehrliche, aber auch kritische Rückmeldungen von den Patienten. Das können Rückmeldungen sein bezogen auf unsere Therapie-Atmosphäre, auf unseren Arbeits- und Kommunikationsstil, auf das Patientenempfinden hinsichtlich eines zielkonformen oder weniger zielorientierten Therapeutenverhaltens, auf das sich wandelnde Therapieinteresse und auf sich ändernde Therapieziele oder bestimmte, gewünschte Therapieinhalte usw.
Obwohl es für viele Patienten sehr schwer ist, über sich, über eigene Emotionen, über Wahrnehmungen beim Lernen zu sprechen, sollten wir im Dialog mit dem Patienten versuchen herauszufinden, was sein Lernen fördern könnte, was sein Lernen erschwert.
Warum das Nachfragen ? Weil es ohne die vom Therapeuten provozierten Patienten-Äußerungen – vor allem bei aphasischen Patienten – in den meisten Fällen verborgen bleibt, ja bisweilen ein Rätsel bleibt, welche funktionalen Einflussfaktoren das konzentrierte Mitarbeiten des Patienten erschweren.
Seine kognitiven Prozesse finden in der „black box Gehirn“ unerkannt statt. Wir können die Resultate der verborgener Denk- und Lernprozesse allenfalls seinen verbalen und gestischen Äußerungen entnehmen. Ob Hemmfaktoren das intentionale Lernen belasten, das können wir u.U. aus seinen Verhaltens- oder Leistungsschwankungen herauslesen. Aber seine psychischen, gedanklichen Befindlichkeiten bleiben uns meist verborgen.
Wenn ich mit meinen Patienten arbeite, dann formuliere ich für mich, während meiner intentional angelegten Aktionen permanent Zielhypothesen. Ich beobachte ihr Antwortverhalten, ich interpretiere, ich hoffe und befürchte, ich freue mich, ich rätsele, ich tröste, ich versuche, Mut zu machen – bestärkt fühle ich mich in meinem Therapeutenverhalten, wenn ich beobachten kann, dass der Patient Fortschritte in seinem Verhalten im Sinne der gemeinsamen Zielannäherung zeigt. Aber was letztlich in der black box stattgefunden hat, bleibt mir „ein Rätsel“.
Im Grundsatz bewegen wir Therapeuten uns auf der Ebene der Verhaltensbeobachtung, der empathischen Verhaltensbeeinflussung und der Interpretation des Patientenausdrucks.
Interessant ist, dass wir keinem Patienten oder Angehörigen auf die Frage: „Welche Methode, welches Lernen, welcher Umstand war denn letztlich so entscheidend für den Erfolg ?“ eine eindeutige, begründete Antwort geben. Warum ? Letztlich bleibt uns der Einblick in die Verarbeitungsprozesse in der „black box Gehirn“ verwehrt.
Deshalb bin ich immer wieder überrascht, wenn manche Therapeuten spezielle, auf sogenannte Evidenz hin geprüfte Methoden konsequent bei ihren sprachgestörten Patienten anwenden, in der Erwartung, dass diese Methode Erfolge zeigt.
Wenn die Evidenz interindividuell „evidente“, also offenkundig gute Resultate erzeugte, dann müssten theoretisch bei fast allen Patienten, die mit einer dieser evidenten Methoden konsequent und stringent behandelt wurden, ähnlich gute Therapieresultate erreicht werden. Doch weit gefehlt.
Interviewerin Frau B.:
Welche Schlüsse ziehen Sie für die Praxis daraus ?
Middeldorf:
Dass die sogenannte Evidenzbasiertheit als theoretisches Gedankenkonstrukt eher im naturwissenschaftlichen Raum zum Tragen kommt, z.B. in der Medizin, dass es aber in geisteswissenschaftlich-sozialen Interaktionssystemen nicht zum Tragen kommen kann. Warum, darauf können wir ja vielleicht später noch eingehender zu sprechen kommen.
Ich muss mir im Kontext des Themenkomplexes Intentionales und funktionales Lernen in der Therapie ständig darüber Gedanken machen, was die Lernarbeit trotz der funktionalen Störfaktoren effektiver machen kann, was wir dringend verbessern müssen und wie wir die Patienten dahin bringen können, mehr aus eigenem Antrieb zu erarbeiten – bei diesem Gedanken habe ich speziell aphasisch Betroffene im Blick.
Sehr viele sind mir in den letzten Jahren begegnet, die zusammen mit ihren Angehörigen völlig hilflos erschienen, kein eigenes System hatten, um mit der Sprachlosigkeit adäquat umgehen zu können. Sie verlagern – verständlicher Weise – ihren Fokus erwartungsvoll auf die Wirksamkeit der Therapiemaßnahmen. Sie verlassen sich in der Annahme, dass das, was gemacht wird, große Wirkung habe, primär auf die professionelle Effizienz der Sprachtherapie.
Doch – die Lernprozesse laufen im Gehirn des Patienten ab. Er muss lernen.
Was ich mir wünsche ist, beim Patienten und bei seinen Angehörigen ein Bewusstsein dafür anzuregen, dass er selbst mehr und mehr motiviert aus eigener Initiative heraus lernt – um letztlich funktionellen Ablenkern ihre negative Einflusskraft zu schwächen. Dazu muss ich ihm natürlich probate Hilfsmittel an die Hand geben, damit er es tatsächlich bewerkstelligen kann, viel selbstständiger zu lernen als bisher.
Er sollte von uns kontinuierlich zu einer intrinsisch motivierten Lernarbeit befördert werden. Denn – nur im intrinsisch motivierten Lernen des Patienten liegt für uns Therapeuten das Geheimnis dafür, dass wir den Patienten zu neuen Fähigkeiten bringen können und dass er letztlich selbst spürt, dass er über sein eigenes Lernen die gewünschten Fortschritte generiert.
Wenn er interessensgeleitet lernt, dann hat er gewonnen, und wir dazu.
Interviewerin Frau B.:
Das heißt für mich, dass sich der Patient durch interessengeleitetes Lernen besser auf die Verbesserung einstellen kann, und sich dadurch besser konzentriert auf den Zuwachs und sich durch sachfremde Reize nicht mehr so sehr beeinflussen lässt.
Middeldorf:
Ja, deshalb plädiere ich in letzter Konsequenz dafür, dass der Patient von uns Therapeuten zu viel mehr eigenverantwortlichem, therapeutischem Handeln bei größerer Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit geführt wird.
Durch ein Mehr an „Freiheit“ im therapeutischen Entscheiden und Handeln kann er übrigens Selbstwertgefühle und größeres Selbstbewusstsein in Bezug auf sein Vorankommen entwickeln. Dafür sollten wir ihm zunehmend die Voraussetzungen schaffen.
Interviewerin Frau B.:
Welche wären das nach Ihrer Meinung ? Wie können die aussehen ?
Middeldorf:
Nun, zu allererst können wir erste Voraussetzungen dafür durch sachkundige Beratung und mutmachende Aufklärung dahingehend schaffen, was die Neurooganisation und das Neurowachstum im Gehirn durch Stimulation und kognitive Forderung anbetrifft. Stichworte sind Plastizität, gigantische Reservepotenziale, Mut zur Leistungserbringung in Sachen Lernen.
Zum anderen sollten wir den Betroffenen und ihren Angehörigen unter dem Stichwort Selbsthilfe therapeutisch relevante Alltags-Interaktionen beschreiben und ihnen sagen, dass sie momentan auch mit eingeschränkter Sprachkompetenz durchaus Wichtiges tun und bewegen können, z.B. in sozialen oder politischen Gruppen „bloß“ dabei zu sein und durch Anwesenheit Flagge zu zeigen und dadurch aktiv teilzuhaben.
Und was die Verbesserung der Sprache anbelangt rate ich jedem Betroffenen und seinen Angehörigen, täglich selbstständig eigene Übungen durchzuführen. Dazu brauchen sie selbstverständlich konkrete Hilfestellungen. Die meisten sind dazu bereit. Aber sie wollen natürlich wissen, was sie tun sollen und wie sie eigene Übungen auf die Beine stellen können.
Sie fragen oft nach audio-visuellen Übungsmedien, die der Betroffene selbst bedienen kann und die inhaltlich erwachsenengemäß und abwechselungsreich gestaltet sind.
Interviewerin Frau B.:
Kennen Sie solche ?
Middeldorf:
Ich glaube schon. Die Firma VMS GmbH, Lindlar, produziert und vertreibt die „LogoMedien“. Das sind Übungs- und Lernmedien zum Selbstüben. An deren Gestaltung und Entwicklung habe ich persönlich mitgewirkt. Während der Entstehungsphase der LogoMedien-Produkte habe ich Prototypen immer mal wieder in der Aphasie-Gruppe und in speziellen Studienprojekten auf ihre Praktikabilität, therapeutische Wirksamkeit und auf ihre Attraktivität für Erwachsene hin überprüft.
Es freut mich zu beobachten, dass diese audiovisuellen Medien von den Probanden als deutlich attraktiver beschrieben werden als „Bleistiftübungen“. Ich weiß also, was die Logomedien bieten und dass sie nachgewiesenermaßen lern- und übungsrelevant sind.
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, das ist vielleicht das Stichwort für unser nächstes Gespräch. Sie machten die Anmerkung, dass Ihnen das „geordnete Üben“ in der Sprachtherapie sehr am Herzen liegt.
Ich würde gern übermorgen (?) mit Ihnen darüber weiter sprechen, ist das in Ordnung ?
Middeldorf:
Ja, bitte übermorgen um halb vier.
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, durch Ihre Ausführungen über das intentionale und das funktionale Lernen ist mir bewusst geworden, wie vielen bewussten und unbewussten Einflüssen wir Menschen ausgesetzt sind. Die alle beeinflussen unser Denken – irgendwie.
Ich danke Ihnen sehr für das heutige Gespräch und wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Middeldorf:
Danke, den wünsche ich Ihnen auch. Tschüss.
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