Interview 17: Stottern
Erstellt am 19. September 2015
Interviewerin Frau B.:
Was eigentlich ist Stottern ? Woher kommt Stottern ? Wie behandeln Sie das Phänomen Stottern ? Ist Stottern angeboren ?
Middeldorf
Nein. Stottern ist nicht angeboren. Stottern ist ein unbeabsichtigt gelernter Sprechstil.
Wichtig zu wissen ist, dass Stottern in der Regel nicht plötzlich eintritt. Stottern ist das leidige Resultat eines Entwicklungsprozesses. Stottern entwickelt sich meist aus einer frühkindlichen Entwicklungsphase heraus, der Iterations-Phase.
Das ist die Entwicklungsphase, in der die meisten Kinder im Alter von drei, vier Jahren irgendwann einmal mit Iterationen sprechen. Das sind kleine, leise oder lautere Hängenbleiber beim Sprechen.
Das Kindsgehirn lernt in dieser Phase unaufhörlich. Es lernt die Wörter unserer Sprache, ihre Bedeutung und den Sprachklang. Es lernt einen passiven Wortschatz anzulegen. Das ist die Sammlung von Wörtern im Kopf, mit der das Kind verstehen kann. Es lernt dann einen bestimmten Teil des passiven Wortschatzes selbst zu sprechen, und wiederholt zu sprechen, und immer wieder auszusprechen. Die Wörter, die das Kind dann beim Sprechen gebraucht, ordnen wir dann seinem aktiven Wortschatz zu.
Auch lernt das Kind durch das Hören der Sprache intuitiv den Sprachklang, die Aussprache der Wörter und Sätze. Es lernt, das /t/ vom /k/ zu unterscheiden und bei eigenen Sprechversuchen zu spüren, dass es doch nicht so einfach ist, die Zunge so zu platzieren, dass die eigenproduzierten Laute denen der anderen entsprechen.
Das kleine Kind lernt z.B., dass der Junge TOM heißt und die Aufforderung zu kommen KOMM heißt. Wenn Tom also kommen soll, dann heißt es nicht /tomtom/, sondern /tom kom/. Das Kind lernt Sätze zu verstehen. Es lernt Sätze zu sprechen und den Eltern und seinen Freunden im Sprechen nachzueifern. Es lernt, seine Gedanken sehr spontan zunächst mit noch unpassenden und dann mit passenden Wörtern auszudrücken. Es lernt im Laufe der Zeit kleine Sätzen zu sprechen. Dann lernt es auch, die gehörten Wörter und Sätze grammatikalisch so korrekt auszusprechen wie es die Eltern und die Sprachgemeinschaft tun.
Diese kurze Entwicklungsbeschreibung soll die kindliche Sprachentwicklung charakterisieren. Sie soll aufzeigen, dass das kindliche Sprachelernen Schritt für Schritt auf allen sprachlichen Ebenen – auf der Ebene des Wortschatzes, der Lautbildung und der Grammatik – erfolgt. Das Kindsgehirn lernt nach einem strukturellen Plan, der genetisch angelegt ist. Dieser Hirnreifungsplan gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen die Schritte des Wachstums der Sprache ablaufen.
Das „fehlerfreie“ Ausdrücken der eigenen Gedanken mit den passenden Wörtern und der korrekten Grammatik markiert dann bald das Ende seiner kindlichen Sprachentwicklung. Dann kann das Kind meist ausgewogen und gleichermaßen auf Wortschatz, Lautbildung und Grammatik zugreifen.
Während des kindlichen Spracherwerbs kommt es überraschenderweise – bei fast jedem Kind – irgendwann vor, dass die sprachlichen Hirnentwicklungen in Wortschatz, Lautbildung und Grammatik nicht auf dem gleichen Entwicklungsstand sind. Das zeigt sich meist bei der spontanen Sprachproduktion.
Da sucht das Kind nach dem passenden Wort, oder da will es den Satz korrekt bilden oder da verspricht es sich, weil die Mundmotorik noch nicht für die feinen Artikulationsbewegungen ausentwickelt ist.
Dabei produziert das Kind ab und an kleine, leise oder lautere Hängenbleiber beim Sprechen.
Diese Hängenbleiber können einen Tag lang, eine Woche, einen Monat oder auch etwas länger zu hören sein, bis die Hirnreifung den einen Bereich an den Entwicklungsstand des anderen Bereichs angeglichen hat und die sprachlichen Fähigkeiten nun harmonisch ineinander greifen. Das Kind spricht dann flüssig und unauffällig.
Kommt der Reifungsprozess oder der sprachliche Entwicklungsprozess des Sprechens in ganzen Sätzen in irgendeinem Stadium der Sprachentwicklung für eine längere Zeit zum Stocken, und wird deutlich, dass das Kind iterierend spricht und eigentlich unangebrachte Unterbrechungen und Wiederholungen produziert, dann ist das zu diesem Zeitpunkt noch kein Grund, die Iterationen als dramatisch anzusehen. Denn das sind Zeichen – wie erwähnt – für laufende hirnreifungs- und sprachentwicklungsbedingte Entwicklungsprozesse.
Sie zeigen uns, dass die im Kind stattfindende neuronale Vernetzung von Gedanken, Sprachplanung und Sprechen und der gleichzeitige, synchrone Zugriff darauf noch nicht vollständig abgeschlossen ist.
Das kindlich-iterative Sprechen in Form von Silbenwiederholungen kann z.T. hektisch und getrieben wirken.
Wenn das zum ersten Mal auftritt, dann sollten die Eltern das auf keinen Fall als „Stottern“ missverstehen. Das ist – wie gesagt – Ausdruck einer kurzzeitigen Dyssynchronität des Zugreifens auf verschiedene Hirnleistungsbereiche.
Damit sich das Sprechen „beruhigt“ und sich das neuronale Zusammenspiel von Sprach- und Sprechplanung und den sprechmotorischen Ausdrucksmöglichkeiten weiter entwickeln kann, benötigt das Kind jetzt das ruhige, sprecherische Modell der nahen Umgebung, also der Eltern, der Großeltern oder der Erzieherinnen im Kindergarten.
Das Kind braucht Inputs „normalen“ Sprechens.
Man kann in einigen Fällen beobachten, dass sich dann verstärken, wenn das Kind z.B. über aufregende Geschehnisse berichtet und nicht nur dadurch unter emotionalem Stress spricht, man kann auch verstärkte Iterationsfrequenzen beobachten, wenn z.B. übergroße Erwartungen an das Sprechen des Kindes gerichtet sind. Da stresst dann die psychische Situation.
Mein Rat an die Eltern ist, die iterierende Sprechweise des Kindes mit Aufmerksamkeit, aber in aller Ruhe zur Kenntnis zu nehmen und jetzt keinesfalls zu versuchen, auf das iterierte Sprechen einzuwirken.
Gut gemeinte Hinweise oder Korrekturversuche sind jetzt noch viel zu früh. Es handelt sich im Stadium der Iteration nicht um ein Stottern !
Es handelt sich um eine ganz natürliche Erscheinung, die ja bei fast allen Kindern in dieser Entwicklungsphase des Gehirns zu beobachten ist.
Interviewerin Frau B.:
Ich ahne, was jetzt kommt. Aus diesem iterierten Sprechen entwickelt sich das Stottern ?
Middeldorf
Prinzipiell ja.
Man sollte hellhörig werden, wenn die Iterationsphase länger als etwa 3 Monate dauert. Dann braucht das Kind vermehrt eine ruhige Gesprächsatmospäre mit einem ruhigen Sprech-Modell, an dem es sich orientieren und an das es sich anpassen kann. Aber, ich möchte nochmals hervorheben, dass die Eltern keinesfalls in Panik verfallen sollen, auch wenn sich das iterierte Sprechen für sie bedrohlich anhört.
Zeigt das ruhige Modellsprechen im Laufe der nächsten Wochen keine Wirkung, und spricht das Kind weiterhin unverändert iterierend, dann jedoch wächst die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind das iterative Sprechmuster verfestigt.
Das birgt dann die Gefahr, dass sich dieses Sprechmuster zunehmend motorisch im Gehirn verankert und sich im Laufe der Wochen und Monate zu einem automatisierten, stereotyp wirkenden Sprechmuster ausentwickelt und verselbstständigt, was die Charakteristik des Stotterns annimmt.
In diesem Fall sollte ohne Zögern logopädische Beratung eingeholt werden. Die Sprachtherapeutin kann dann in dem frühen Stadium des Stotterns rechtzeitig Abhilfe schaffen. Zunächst durch Aufklärung.
Die Aufklärung der Eltern ist in dieser Situation äußerst wichtig, denn sie haben Angst vor einem Stottern ihres Kindes und benötigen jetzt Verhaltenstipps und professionelle Unterstützung.
Das hat jedoch noch nicht zu bedeuten, dass das Kind bereits jetzt in die Sprachtherapie der Logopädin muss.
Aber jetzt sollten die Eltern sich von der Logopädin beraten und begleiten lassen und mit ihrer Hilfe einen Weg finden, das iterierte Sprechen des Kindes während der Sprachentwicklung positiv zu beeinflussen.
Von behandlungsbedürftigem Stottern sprechen wir erst dann, wenn sich im schlimmsten Fall das iterierte Sprechen automatisiert hat und es als stereotypes Sprechmuster immer wieder auffällt. Dann hat das gestotterte Sprechen begonnen sich zu verselbstständigen.
Und das ist der Zeitpunkt, in dem spätestens jetzt therapeutisch eingegriffen werden muss, um schlimmen Entwicklungen in Richtung „chronischem“ Stottern vorzubeugen.
Aber, ich möchte noch einmal betonen, dass die Eltern keinesfalls in Panik verfallen sollen. Sie sollten nur den professionellen Rat der Logopädin folgen und lernen, in der Kommunikation mit ihrem Kind therapeutisch richtig zu interagieren und auf das Stottern entspannend zu reagieren.
Jetzt muss die Logopädin schnell helfen. Es darf keine Zeit verloren gehen, und die Eltern müssen davor bewahrt werden, – trotz besten Bemühens – falsch auf das beginnende Stottern zu reagieren. Sie müssen unbedingt den Rat und die Hilfe bei der Logopädin suchen.
Interviewerin Frau B.:
Und wenn keine Logopädin zur Verfügung steht und keine Therapie eingeleitet wird, was kann dann auf das Kind zu kommen ?
Middeldorf
Zuerst kann ich sagen, dass es heute genügend Ansprechstellen für die Eltern gibt. Da sind zu allererst die Logopädischen Praxen zu nennen. Wenn im eigenen Ort keine sprachtherapeutische Praxis existiert, dann im nächsten Ort oder in der Kreisstadt. Wenn die Logopädin sich nicht kompetent fühlt, dann wird sie die Eltern an andere Stellen verweisen.
Sie fragen, was im schlimmsten Fall auf die stotternden Kinder zu kommen kann ? Ich will es mal so zusammenfassen: An sich nichts Gutes.
In bisher weit mehr als 200 individuellen Therapien mit jugendlichen und erwachsenen Stotternden gewann ich tiefe Einblicke in ihr Erleben im Kindes- und Jugendalter.
Mit dem Älterwerden und im sozialen Lernen in Kindergarten und während der Schulzeit werden die Kinder immer wieder mit ihrem eigenen Stottern als „spürbarer Normabweichung“ konfrontiert.
Seine Abweichung vom „normalen Sprechen“ spürt das Kind. Ganz besonders dann, wenn im Kindergarten oder in der 1. Klasse andere Kinder sein gestottertes Sprechen imitieren und es damit hänseln.
Dieses Gespiegeltbekommen des eigenen gestotterten Sprechens schmerzt. Das stotternde Kind erfährt sein Sprechen als abweichendes Verhalten, was es als „Stotterer“ stigmatisiert.
Das Kind leidet darunter. Deshalb ist es ständig bemüht, sein gestottertes Sprechen zu vermeiden. Es bemüht sich, durch Eigenaktivitäten das Stottern zu unterdrücken.
Alle stotternden Patienten, mit denen ich gearbeitet habe, teilten mir übereinstimmend mit, dass sie die beim Sprechen erlebten Verkrampfungen bei den Lautbildungen, vor oder auch innerhalb eines Wortes oder Satzes, als fürchterlich empfinden, weil man im Moment der Verkrampfung dieser nichts entgegen setzen kann.
Doch – die Kinder suchen weiter nach eigenen Vermeidungslösungen, z.B. stimuliert sich das eine Kind im Moment der Sprech-Verkrampfung über diese hinwegzukommen, indem es auf den Boden stampft. Das andere schlägt sich mit der Hand auf den Oberschenkel oder wirft den Kopf nach hinten. Diese Maßnahmen mögen dem Kind im ersten Moment als hilfreich erscheinen. Doch langfristig führen diese Stotterüberwindungsversuche nicht zum Erfolg, auch wenn die Eigenlösungen nach dem Motto: „Das hat doch im ersten Moment geholfen – also wende ich sie weiterhin an“ nicht zu den erwünschten dauerhaften Verflüssigungen des Sprechens führen.
Es beginnt eine Negativspirale.
Trotz dieser Eigenversuche bleibt das Stottern bestehen, jetzt aber angereichert mit den sogenannten „Sekundärsymptomen“, den beobachtbaren Begleiterscheinungen, die sich dann assoziiert mit dem gestotterten Sprechen während des Sprechens ebenfalls manifestieren.
Die mittlerweile automatisierten Vermeidungsbemühungen wie Grimmassieren, das Nach-Hinten-Werfen des Kopfes, das Schnalzen beim Sprechen, das Verdrehen der Augen, das Stampfen auf den Boden usw., usw. wirken auf andere Menschen beklemmend.
Das hörbare und sichtbare Gesamtverhalten des Stotternden während des Stotterns entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einem manifesten Verhaltenskomplex.
Tatsache ist, dass die anderen Menschen nicht nur das Stottern hören sondern es nun auch sehen. Und diese Tatsache hat gravierende Folgen für die weitere sozialpsychische Entwicklung des Kindes.
Die sozial-kommunikativen Umstände, die sich durch das Stotterverhalten des Kindes aufbauen, verformen in den stotternden Kindern und Jugendlichen ihre „gesunde“ Entwicklung der Kommunikationskompetenz dergestalt, dass sie in jedem Gespräch mit anderen versuchen, ihr auffälliges Sprechen zu kaschieren.
Dazu entwickeln sie Sprechvermeidungsstrategien in Form z.B. schlagwortartiger, kurzer aber flüssiger Aussagen, die in längeren Beiträgen vor Hängenbleibern bewahren sollen.
Kurze Aussagen sind hilfreich. Deshalb nehmen diese an Häufigkeit zu. Auch suggerieren sie dem Stotternden im ersten Moment „Linderung“.
Leider nehmen auch Rückzugstendenzen bei der mündlichen Beteiligung z.B. im Schulunterricht zu oder die Bevorzugung des SMS-Schreibens als Gesprächsersatz kann helfen, den Stotternden vor sprecherischen Blamagen zu bewahren.
Die stotternden Schulkinder und Jugendlichen entwickeln immer feinere, subtilere Stottervermeidungs-Strategien z.B. dadurch, dass sie nun zunehmend kommunikativ-sprachliche Situationen meiden oder Interaktionsformen aufbauen, die die „Stottergefahr“ vermeindlich verringern.
Das führt zu psychosozialen Entwicklungsverengungen in Schule, Studium, Beruf. Wer als Stotternder sprechen muss, der reduziert sein Sprechen auf ein Mindestmaß. Und wer nicht oder nur wenig spricht, der lernt das Sprechen nicht voll auszuentwickeln.
Die Tendenz zur Reduktion auf das Notwendigste verhindert die unbekümmerte Expansion der sprecherischen und kommunikativen Potenziale im Umgang mit anderen.
Die Kinder und Jugendlichen, die einer solchen retroaktiven Kommunikationsstrategie folgen, verbauen sich kommunikative und geistige Entwicklungsmöglichkeiten, die andere Menschen ohne das Stotterleiden voll ausschöpfen können.
Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Bereits bei der Diskussion der richtigen Berufswahl nach dem Schulabschluss tendieren Betroffene oft dazu, eine berufliche Aktivität, die mit Sprechen verbunden ist, bei ihren Überlegungen erfahrungsabhängig eher in den Hintergrund zu drängen. Es lassen sich für sie immer Gründe finden, die eine Richtung oder die andere einzuschlagen, nur nicht die, die an sich dem eigentlichen Interesse entgegen käme. Eine begabungsorientierte Orientierung kann dabei u.U. unter den Tisch fallen.
Die Kommunikationsstrategie des Stotternden kann somit durchaus langfristig die Persönlichkeitsentwicklung aufgrund der Ausblendung von Lebens- und Berufschancen, die mit sprachlichen Anforderungen zusammen hängen, negativ beeinflussen.
Was mir in den vielen Stottertherapien bisher bei fast allen Patienten auffiel ist die Armut im sprachlichen Ausdruck.
Der langfristig begrenzte, eingeengte Gebrauch des Sprechens hat nach meinem Eindruck bei den Stotternden zur Folge, dass die meisten unter ihnen es z.T. nicht schaffen, auf einem altersgerechten und angemessenen Sprachniveau zu sprechen.
Unbehandeltes Stottern bremst offensichtlich sehr stark die Ausentwicklung einer erwachsenengemäßen Sprechfähigkeit und sprechsprachlichen Kompetenz.
Auffällig ist, dass die sprechsprachlichen Ausdrucks- und Erzählkompetenzen bei all den Patienten, die wir in der Intensiven Sprachtherapie in Lindlar kennenlernen konnten, deutlich eingeschränkt sind und auch konkrete sprecherische Mängel festzustellen sind, wie etwa das Fehlen eines prosodischen, stimmbewegten und interessanten Sprechens oder die Tendenz, nicht mehr als 5 bis 6 Sätze zu einem Thema hintereinander zu sprechen usw.
Was ich aus neuropädagogischer und aus verhaltensmodifikatorischer Sicht zur Entwicklung und zu den Konsequenzen des Stotterns resümieren möchte ist,
- – dass jeder Stotternde einen ganz individuellen Stotter-Stil besitzt,
- – dass er als untherapierter Mensch im Laufe der Jahre spezielle Kommunikationsstrategien entwickelt, die ihm anfangs subjektiv Sicherheit suggerieren, die ihm letztlich später in vollem Umfang zum Nachteil gereichen können,
- – dass er ein lockeres, freies, d.h. krampffrei und wortgewandt gestaltetes Sprechen gar nicht kennt, weil er das bisher nicht hat systematisch erlernen können und
- – dass er dieses „Vakuum“ des Nicht-Kennens durch Neulernen durchaus füllen kann und
- – dass er durchaus in der Lage ist, seine potenziellen, sprachlichen Entfaltungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen, wenn er sich selbst dieser anstrengenden Aufgabe unterzieht.
Meine Stottertherapie mit Jugendlichen und Erwachsenen thematisiert didaktisch und methodisch diese genannten Punkte und sieht diese als Gegenstände des intensivtherapeutischen Handelns.
Die intensive Stottertherapie Lindlar geht neuropädagogisch und verhaltensmodifikatorisch ein
- – auf das Erlernen, Trainieren und Einschleifen des für den Patienten völlig neuen Zusammenspiels von Atmung, Lautbildung und Sprechstimmverwendung ,
- – auf die konsequente, praktische Anwendung dieser drei Funktionskomplexe beim Sprechen in allen, denkbaren Situationen und
- – auf das Erlernen zumindest einiger von den vom Patienten formulierten Ideen, hinsichtlich erwünschten sprechsprachlich-kommunikativen Verhaltens sowie
- – auf die konsequente, störungsstrukturabhängige Auswahl der Therapieinhalte und deren Durchführung zum Aufbau eines neuen Sprecherlebens und
- – auf das Löschen des tief verwurzelten Stotter-Sprechstils und des damit verbundenen eigenen Negativ-Bildes als Sprecher und
- – auf die Generierung positiver Erfahrungen, Überzeugungen hinsichtlich des Sprechenkönnens und neuer kommunikativer Verhaltensmuster.
Interviewerin Frau B.:
Wie gehen Sie in Ihrer Stottertherapie konkret vor ?
Middeldorf
Zunächst stelle ich meinem Patienten zu Beginn sieben wesentliche Fakten vor, die in unserer gemeinsamen Arbeit wegweisend sind:
- Die Erkenntnis, dass jeder Mensch dazu in der Lage ist, seinen individuellen Sprechstil zu verändern. Man schaue sich Schauspieler an, die in ihrem Rollen-Text-Studium lernen, der Rolle entsprechend auf besondere Art zu sprechen. Der Stotternde kann grundsätzlich ebenfalls eine individuelle Sprechweise erlernen, die innerhalb seiner Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft unauffällig ist. Das ist möglich.
- Die Erkenntnis, dass der jugendliche und erwachsene Stotternde, der unter seinem Sprechstil leidet, intro- und retrovertiertes Kommunikationsverhalten entwickelt bzw. bereits entwickelt hat, was meist einhergeht mit einer sprachproduktiven Schwäche, was Sprechlänge, Wortdifferenziertheit in der gesprochen Sprache, die Produktionsfähigkeit des aktive Wortschatzes und den komplexen Satzbau anbetrifft.
Diese sprachsystematischen und sprecherischen Defizite kann der Stotternde durch spezielle Trainings und durch sprachliches Neulernen ausgleichen.
- Die Erkenntnis, dass intensive Therapie des Stotterns erfordert, dass ein „neuer“ Sprechstils trainingsmäßig und durch massiertes Üben und schnellstmögliches Anwenden erarbeitet werden muss. Der Patient gibt seiner ausdrucksarmen Sprechweise eine neue Form und wird das als Befreiung erleben. Er wird Freude dadurch entwickeln, dass er sukzessiv viel mehr sprechen kann als nur das Notwendigste, dass er das zu äußern lernt, was er zu äußern gedenkt und dass er die positiven Seiten einer „anders produzierten“ Sprache erleben kann. Aus der Reduktionstendenz wird eine Proaktivitätstendenz, die letztlich auf die Wandlung seines Kommunikationsmusters einwirkt.
- Die Erkenntnis, dass bei günstigem Therapieverlauf und mutiger Anwendung des „neuen“ Sprechens jeder Patient sehr bald das „neue Sprechverhalten“ adaptiert und beobachten kann, wie die anderen darauf positiv regieren. Und dass in ihm in gemeinsam erlebten Interaktionen in Familie und Beruf bei Anwendung des neuen Sprechstils ein ihm bisher völlig unbekanntes, neu erlebtes Selbstbild als Sprechender wächst.
- Die Erkenntnis, dass der stotternde Patient dadurch, dass er sein neues Sprechverhalten zeigt, auf sein bisher gewohntes Sprech- und Verhaltensmuster tatsächlich verzichtet.
In der Kommunikation mit Bekannten mag das insofern belasten, als er so einen Teil seiner „alten“ Sprecher-Persönlichkeit von sich ablegt. Denn Altgewohntes aufzugeben ist nicht einfach. - Die Erkenntnis, dass sich das bisher Beschriebene im Wesentlichen auf die verbalsprachliche Kommunikation bezieht und dass man bei den meisten Stotternden im schriftsprachlichen Bereich, beim Aufsatzschreiben oder beim intellektuellen Durchdenken eines anspruchsvollen Textes dagegen oft überdurchschnittliche Ausdrucksleistungen beobachten kann.
- Die Erfahrung, dass ein Stotternder, der durch eine intensive, atem-und artikulationsbasierte „Sprechschule“ gegangen ist und das erste Ziel, nämlich das Sprechen in Vortragsform in seiner „Vollendung“ erreicht hat, dass der den Neuaufbau eines bis dahin fehlenden Gerüstes für stotterfreies Kommunizieren begonnen hat. Voraussetzung ist natürlich, dass er auf diesem Weg professionell gecoacht wird.
Interviewerin Frau B.:
Was machen Sie dann konkret in der Stottertherapie ? Beschreiben Sie mir bitte einige Vorgehensweisen, damit ich mir davon ein Bild machen kann.
Middeldorf
Stottertherapeutisch gehe ich der 1. Erkenntnis folgend mit dem stotternden Patient die Stufen der Sprechentwicklung durch: Kennenlernen der Geräusch-Bildung, durch Hörbarmachung des Ausatemstroms bei bestimmten Zungen- und Lippenstellungen bis hin zu bewussten Laut-Bildungen; Kennenlernen des Generierens eines Geräusch-Klangs aufgrund von mundmotorischen Einstellungen, Erlernen der für ihn neu empfundenen physiologischen Bewegungen zur Erlangung bestimmter Lautbildungen, dargestellt und erläutert anhand physikalisch-physiologisch basierter Informationen und nachvollziehbarer Erklärungen. Bei mir wird die Geräuschbildung stets kombiniert mit der bewusst forcierten Ausatmung, die wir parallel erarbeiten, die von den meisten Patienten als ungewohnt beschrieben wird. Sie reagieren nicht selten mit Verwunderung wie „Dann wird alles so laut !“ und „Das ist so leicht !“.
Die Reibelaut-Geräusche werden anfangs bewusst forciert gebildet. Die meisten Patienten gewöhnen sich schnell an die für sie zuerst ungewohnt hervorgerufenen Geräusche. Es zischt und gurkelt und knallt – und es wird herzhaft gelacht !
Danach erarbeiten wir den natürlich-physiologischen, proaktiven Lautbildungsansatz bei Plosivlauten. Dabei werden analog zur Jacobsons progressiven Muskelan- und Entspannung die Verschlussbildung mit Atemandruck und anschließender Verschlussöffnung zuerst isoliert, dann in Kombination mit Vokalen, Silben, kurzen und längeren Wörtern erarbeitet.
Hier wird immer an das physiologisch-phonetisch-physikalische Prinzip der zugrundeliegenden Geräuschbildungsweise erinnert.
In Übungen mit konsequentem Abrufen dieser neuen Lautbildungsweise und unter strenger Vermeidung des pathologischen, „gestotterten“ Sprechansatzes prägt sich der Patient das neue Verhalten relativ schnell ein und lernt, das gestotterte Laubildungsmuster „auszuschalten“.
Die meisten Stotternden verkrampfen auch beim Stimmansatz, dabei geraten die beiden Stimmbandmuskeln und die weiteren im Kehlkopf befindlichen Muskeln in unkontrollierte Spannung und lassen die Stimmritze, die Glottis, sich nicht öffnen und die Stimmbänder nicht frei schwingen.
Auch hier werden Wahrnehmungsübungen hinsichtlich der muskulären Verspannung und Entspannung der Stimmbandmuskeln durchgeführt. Erarbeitet wird die physikalisch-physiologisch beschriebene Stimmbildung beim Vokaleinstieg. Hier erlebt der Patient einen für ihn völlig neuartigen Stimmbildungsansatz.
Interviewerin Frau B.:
Wie sieht das aus ?
Middeldorf:
Der Vokal-Einsatz wird mit physiologischer Glottissprengung, mit vorhergehendem, forcierten Atemandruck gegen den Glottisverschluss und mit der sich anschließenden bewussten Öffnung der Glottis bei gleichzeitigem Abbau des Atemandrucks unter Stimmbildung eingeführt, z.B. bei offenem Mund zum /a/. Folgend wird die physiologische Bildung aller Vokale, der Umlaute und der Diphtonge zuerst isoliert trainiert. Dann gehen wir über zum proaktiven, deutlich artikulierten Silben- und Wortsprechen bei Wörtern mit Anfangsvokalen.
Die Koordination aller Einzelfunktionen bedarf des sehr detailgenauen Arbeitens, denn ich lege größten Wert auf fehlerfreies Lernen.
Erst wenn alle basalen physiologischen Funktionen auf Wortebene sicher beherrscht sind, kann der Arbeitsstoff erweitert werden.
Beim Wortsprechen und beim Sprechen kurzer Sätzen nimmt die übungsgesteuerte, „übertriebene“ Dynamik der Lautbildung ab.
Wenn wir nämlich übergehen in ein „proaktives“ Sprechen, was zudem die gelernte Präzision in der Lautbildung verlangt, dann „normalisiert“ sich das Sprechen durch die vielen Anwendungs- und Einschleifübungen. In der Eigenwahrnehmung empfindet der Patient den bisher neuen und ungewohnten physiologischen Ansatz als zunehmend geläufig. Der Klang der jetzt erarbeiteten Lautbildung stellt sich als völlig natürlich dar.
Wichtig ist bei diesem Neu-Lern-Programm, dass er das pathologische, gestotterte Muster beim Aufkeimen sofort konsequent stoppt – natürlich anfangs mit meiner Hilfe – und stattdessen das gelernte, physiologische Abruf- und Ablaufschema wiederholt. Das „fehlerfreie“ Lernen ist angezeigt.
Und das, was mich immer mit tiefer Freude erfüllt, ist die Tatsache, dass der Patient dann sein Sprechen als krampffrei wahrnimmt und nach und nach begreift, dass der „neue“ Sprechstil tatsächlich gut klingt.
Interviewerin Frau B.:
Ich kann es mir als schwierig vorstellen, einen z.B. 20-jährigen Mann dazu zu bringen, das alles so mitzumachen, wie Sie sich das vorstellen.
Middeldorf:
Ihre Gedanken kann ich nachvollziehen.
Aber sehen Sie, hier geht es ja nicht darum, irgendetwas papageienhaft zu imitieren.
Der junge Mann lernt hier zum ersten Mal, Laute, Silben, Wörter und ganze Sätze so zu sprechen, wie er es noch nie in seinem Leben getan hat.
Er soll langfristig das gestotterte Muster „vergessen“, und zwar dadurch, dass er sich mit unserer Hilfe zuerst einmal ein sprecherisches Fundament erarbeitet – was ihm bis dahin überhaupt nicht zur Verfügung stand, weil er das stotterfreie Sprechen von früh an bis heute ja nie gelernt und erfahren hat.
Hier kann er quasi im Schnelldurchgang für ihn völlig neue atem- und sprechmotorische Abläufe kennen lernen und auf diesen sein Sprechen in seiner Komplexität aufbauen.
Das, was auch einen 20-jährigen jungen Mann stark motiviert ist die Tatsache, dass er spürt, dass er gegenüber früher heute ein völlig neues und anderes Sprechverhalten zu lernen imstande ist. Er will es ja, und jetzt erfährt er, dass er es kann.
Damit er das schnell täglich erlebt, werden in Einzeltherapie in hoher Frequenz Sprech-Trainings angesetzt, die ihm der 2. Erkenntnis gemäß abverlangt werden.
Das nächste Therapiemotto lautet, den neuen, proaktiven Sprechstil zu lernen und zu verinnerlichen.
Wortlistensprechen, proaktives, lautes Lesen eines selbst erstellten Vortrags, dann wiederholtes Vortragen mit stets zunehmenden, vortragsrelevanten Variationen wie stilles Lesen eines Satzes, dann Aufschauen, Fixieren der Zuhörer und freies Sprechen des gelesenen Satzes, dann wieder stilles Lesen des nächsten Satzes, Aufschauen, Anschauen und Sprechen des gelesenen Satzes usw..
Das Anwenden rhetorischer Regeln wie Betonungen, Pausensetzung am Komma und Satzende, Einsatz von Gestik usw. sind die nächsten Schritte in Richtung Transfer des neuen, stotterfreien Sprechens in den Sprechalltag.
Dazu hält der Patient Vorträge mit den mittlerweile auswendig gekonnten Texten unter strikter Beachtung und Anwendung der gelernten Sprechstilelemente vor Mitpatienten. Das ist der erste Schritt in die kleine Öffentlichkeit.
Zu weiterem Training der Umsetzung und Anwendung des neuen Sprechstils und zur Gewinnung der atemtechnischen und artikulomotorischen Geläufigkeit beim proaktiven Sprechen führt der Patient täglich mehrere Interviews bei Mitpatienten und Therapeuten durch, macht small-talks mit dem einen oder dem anderen und spricht beim Bierchen über eigene Erlebnisse auf seiner letzten Reise usw.
Hier greife ich verbal oft auf die 3. Erkenntnis zurück. Dass er das mit Hilfe des neuen, andere ansprechenden Sprechstils schafft, untermauert sein mutiges Verhalten und beflügelt ihn.
Glauben Sie mir, es gibt für mich als Therapeut kein schöneres Gefühl als zu erleben, dass aus einer retroaktiven Persönlichkeit eine proaktive wird.
Vielleicht können Sie jetzt verstehen, dass ein junger Mann an einem für Sie vielleicht kindischem Üben Freude entwickeln kann. Wenn Freude mitspielt, dann – aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen – setzt ein Appetit nach mehr ein.
Durch die ersten positiven Ergebnisse entwickeln alle Patienten Sprechfreude. Ich habe es schon einmal gesagt. Sie spüren und sind überzeugt, dass das „neue Sprechen“ ohne Verkrampfungen stattfinden kann. Ein Abiturient hat einmal gesagt: „Ich beobachte zum ersten Mal in meinem Leben, dass meine Gesprächspartner meinem Sprechen Interesse entgegen bringen.“ Sagt das nicht unglaublich viel über den Lernprozess in diesem Menschen aus ?
Der 3. Erkenntnis gemäß wird immer wieder trainingsmäßiges, massiertes Üben und schnellstmögliches Anwenden des erarbeiteten „neuen“ Sprechstils durchgeführt und verlangt.
Hinführung zu ausdrucksstärkerem Sprechen und zu einem konsequenten „Mehr sprechen“ und jede erdenkliche Gelegenheit in unserem Zentrum zu nutzen, das sind etwa in der dritten Therapiewoche die Leitlinien für das eigene Verhalten.
Was ich dem Patienten anfangs mit der 4. Erkenntnis mitgeteilt habe, rufe ich ihm von Zeit zu Zeit immer wieder in Erinnerung: Dass er bei weiterhin gutem Therapieverlauf und mutiger, bewusster und sehr konzentrierten Anwendung seines proaktiven Sprechstils sehr bald dieses neue Sprechverhalten adaptieren wird, ja , -ich werde jetzt pathetisch – es lieb gewinnen wird.
Wissen Sie, wie sich der kleine, aber auch der schon große Mensch am besten zu einer Persönlichkeit entwickelt ?
Wenn er Gelegenheit bekommt, seine eigene Identität zu finden, sich also als Person selbst wahrzunehmen und sich gleichzeitig mit etwas identifizieren zu können. Und das ist hier der Fall. Der Patient lernt – und das ist mein therapeutisches Anliegen – Sicherheit zu entwickeln dahingehend, dass er sich der großen Gruppe der Sprechen-Könnenden zugehörig fühlen zu können und eigene, erkennbare „Merkmale“ zu entwickeln. „Ich werde dann, wenn ich flüssig sprechen kann, dies und jenes machen !“
Je mehr er sich der Gruppe der Sprechen-Könnenden zugehörig fühlt, desto eher und mehr kann er sich mit dieser identifizieren. Er kann sich bereitwilliger den Gepflogenheiten dieser Gruppe annähern.
Mein großes, für Sie vielleicht völlig überzogenes therapeutisches Anliegen als Sprachtherapeut ist, dem stotternden Patienten Hilfen an die Hand zu geben oder auch Steigbügelhalter zu sein für eine teilweise, aber konkrete Veränderung seiner Persönlichkeit.
Ich empfehle, bewege, ermutige und dränge ihn, während gemeinsamer Interaktionen mit Familie und Kollegen bei Anwendung des neuen Sprechstils deren Aktionen und Reaktionen wahrzunehmen, um die ihm zugewandten Aktionen und Reaktionen als positive, ihm gebührende Aufmerksamkeit zu werten.
Dieser Blick ist für den Patienten völlig ungewohnt gegenüber den früheren Blicken. Der muss aber getan werden, damit er das Neuartige und Überraschende in der Kommunikation erkennen lernt und es werten kann.
Wenn er erkennt, dass er als Sprechen-Könnender sich auch neuen Herausforderungen zuwenden kann, dann entwickelt er für sich und die anderen ein bisher unbekanntes, neu erlebtes Selbstbild als Sprechender.
Die mit der 5. Erkenntnis ausgedrückten Erfahrung, dass der stotternde Patient durch Adaption des neuen Sprech- und Kommunikationsverhaltens aus der Sicht seiner Bekannten einen Teil seiner „alten“ Persönlichkeit verliert, muss durch Gespräche in folgenden richtungsweisenden Sinn umgedeutet werden, dass er diesen Teil nicht „verliert“, sondern dass er ihn bewusst, zielstrebig und proaktiv aufgibt und die entstehende „Lücke“ durch neue „Qualitäten“ ersetzt.
Sie können sich vorstellen, dass das ein ganz schwieriger Prozess sein kann. Denn z.B. – jetzt werde ich etwas bissig – auf die gewohnte Rücksichtnahme der anderen wegen des Stotterns zukünftig verzichten zu müssen, das erfordert Courage.
Altgewohntes abzulegen ist immer nicht angenehm.
Interviewerin Frau B.:
Sie erwähnten, dass der Stotternde in der schriftlichen Sprache besondere Fähigkeiten hat. Wie hab ich das zu verstehen ?
Middeldorf:
Die 6. Erkenntnis, dass wir die sprachliche Kompetenz eines Stotternden zwangsläufig und vordergründig, des verbalsprachlichen Eindrucks wegen, als irgendwie schwächer einschätzen, müssen wir als klare Fehleinschätzung betrachten.
Auch bei den Stotternden ist jeder ein Individuum, mit einem individuellen Stotter-Stil, einem einzigartigen Stotter-Kommunikationsverhalten, einer individuellen Biografie, einem individuellen Bildungs- und Sozialstatus, mit einem individuellen Intellekt usw.
Bei den meisten Mitmenschen ist interindividuell doch ausgereifte Kompetenz in der Sprache als System vorauszusetzen. Die „innere“ Sprache ist ja durch Hören von Sprache, durch Mitdenken in Sprache, durch intellektuelle Verarbeitung von und mit Sprache usw. voll ausentwickelt.
Insofern überrascht es mich gar nicht, dass der stotternde Mensch im schriftsprachlichen output völlig „normale“ Leistungen bringt.
Genau das animiert mich, den Stotternden in den ersten Therapietagen einen Aufsatz schreiben zu lassen zu einem Thema, was ihn interessiert und zu dem er Lust hat etwas zu schreiben.
Bei den frei ausgewählten Themen kommen meist hochinteressante Schriften zustande. Bei den thematisch gebundenen Darstellungen bei jüngeren Patienten, die noch eine Themenvorgabe wünschen, erlebe ich fleißige Ausarbeitungen.
Ich lasse dann in der Phase, in der wir den neuen Sprech-Stil thematisieren und beginnen einzuprägen, diese eigenen, schriftlichen Ausarbeitungen vorlesen. Wegen der notwendigen Sprech-Korrekturen muss das Übungssprechen immer wieder wiederholt werden. Das machen wir dann mit ihren und in ihrem Text.
Sie glauben es nicht, aber ich habe das Gefühl, dass sich die „Autoren“ in ihre Texte verlieben. Sie haben Freude daran, ihre eigene Sprache in schriftlicher Form in gesprochene Sprache zu übertragen.
Da schlagen wir drei Fliegen mit einer Klatsche:
- Wir trainieren die Therapie-Sprechweise, wir schleifen das neue System ein,
- der Stotternde lernt durch das repetitive, stets verbesserte laute Lesen den Text mehr oder weniger auswendig zu sprechen, was einer Hinführung zur eigenen Sprache bedeutet und
- wir bereiten einen „Vortrag“ vor, der dem Patienten thematisch liegt und den er aufgrund der häufigen, sprecherischen Durcharbeitung im neuen Sprechstil weitestgehend perfekt halten kann.
Der 7. Punkt, den ich zu Beginn einer jeden Intensiv-Stottertherapie anspreche, besagt, dass der Stotternde durch eine intensive, atem-und artikulationsbasierte „Sprechschule“ gehen wird. Dadurch kann er eine innere Neuorientierung und sprecherische Neujustierung gewinnen.
Ein Gymnasiast hat das mit seinen Worten etwa so beschrieben: „Jetzt habe ich das Gefühl in einem Raum zu stehen, der früher um mich herum verschlossene Türen hatte und dessen Türen heute offen stehen. Ich kann jetzt hinausgehen und die Welt da draußen endlich kennen lernen.“
Oder ein IT-Spezialist kurz nach dem Studium, nun in der Probezeit seiner ersten Anstellung in Düsseldorf: „ Wenn Sie mir vor vier Wochen gesagt hätten, dass ich vor so vielen Menschen heute Abend meine Abschiedsworte sprechen würde, dann hätte ich Sie als größten Optimisten bezeichnet, von der Realität weit entfernt. Doch – ich bin so froh, dass Sie mich durch Ihr Power-Play gebracht haben und mir keine Zeit für anderes ließen. Ich halte hier und jetzt zum ersten Mal in meinem Leben eine freie Rede vor Menschen.“
Diese Rückmeldung des IT-Spezialisten ging mir unter die Haut.
Eine solche Wirkung ganz zu Anfang unserer intensivtherapeutischen Arbeit im November 1991 erzielt zu haben, das war bewegend und Bestätigung für uns, in diese Richtung unsere sprachtherapeutische Arbeit auf intensiver Basis, also mit rund 6 Arbeitssitzungen pro Tag fortzusetzen. Das war übrigens ein Vorläufer des CIAT in der Aphasietherapie – das trainingsmäßige Anwenden dessen, was neu ist und das Ausblenden immer wiederkehrender, pathologischer Muster.
Dazu kommt natürlich die Botschaft: „Ich habe es selbst nie geglaubt, doch Ihr habt mir gezeigt, dass ich es schaffen kann !“.
Etwa 10 Jahre nach dieser Therapie erfuhr ich, dass der ehemalige Stotternde in einer IT-Firma in Hamburg Karriere gemacht habe und eine Führungsposition bekleide. Er spräche im Beruf flüssig, im privaten Leben jedoch, z.B. in der elterlichen Familie, käme nicht selten das Stottern noch zum Vorschein.
Was unsere Intensiv-Stottertherapie ermöglicht ist der Aufbau eines bis dahin überhaupt nicht existierenden Instrumentariums für stotterfreies Kommunizieren.
Der Patienten bekommt von uns das passende Handwerkszeug an die Hand, um die Fachwerke seines Kommunikationshauses auszumauern.
Je mehr Fachwerke geschlossen sind, desto mehr ist der Hausbewohner vor eisigen Stürmen aus der kommunikativen Welt geschützt.
Um dahin zu kommen brauchen wir mindestens 5 Wochen – intensiv, mit mindestens 3 Einzeltherapien a 45 Minuten pro Tag und 4 Eigenübungseinheiten a 45 Minuten, die auch von Praktikanten begleitet werden.
Nach diesen 5 Wochen stehen wir ihm in der posttherapeutischen Phase mit Rat und Tat so lange zur Verfügung, wie der Patient es für nötig erachtet, professionelle Beratung einzuholen. Er weiß, dass er professionell gecoacht werden kann.
Interviewerin Frau B.:
Ich begreife jetzt, dass Stottertherapie nicht einfach nur aus einem gegenseitigen Vorsprechen des Therapeuten und dem flüssigen Nachsprechen des Patienten besteht.
Wie Sie mir das nun dargelegt haben – die Stottertherapie ist eigentlich ja ein Prozess, der mich an Psychotherapie erinnert.
Middeldorf:
Nun, ich glaube, dass Sie insofern mit Ihrem Eindruck nicht falsch liegen, als unsere Stottertherapie ja bewusst auf eine Verhaltensänderung des stotternden Patienten drängt und funktional eine psychische Veränderung beim Patienten bewirkt.
Insofern kennzeichne ich meine Beratungsgespräche auch als „psychagogisch“ – mit pädagogischen Mitteln im Menschen etwas Positives in seinem Sinne psychisch zu bewirken.
Interviewerin Frau B.:
Als Betrachter von außen kann ich mich nicht zurückhalten zu sagen: Die Stottertherapie ist ein hochspezialisierter Prozess, und darüber hinaus so spannend, weil man die Wirkung der Therapie schon nach Tagen beobachten kann.
Middeldorf:
Das kann ich voll bestätigen.
Interviewerin Frau B.:
Ich danke Ihnen für diese interessanten Einblicke in Ihre Stottertherapie. Ich habe viel gelernt.
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