Interview 10: Das geordnete Üben
Erstellt am 5. August 2015
Interviewerin Frau B.:
Herr Dr. Middeldorf, Sie sprachen beim letzten Mal über die Notwendigkeit des Übens. Ich bitte Sie mir heute praktische Aspekte des sprachtherapeutischen Übens zu beschreiben.
Gibt es bestimmte Inhalte und Regeln des Übens, die über das in der Therapie durchgeführte Üben hinausgehen ?
Middeldorf:
Nun, es ist schwierig, allgemeingültige Rezepte für Übungen zu nennen, weil es die eigentlich gar nicht geben kann. Denn jeder Fall ist anders. Die Lernprozesse sind von sprachgestörtem Mensch zu sprachgestörtem Mensch anders – jeder zeigt ganz spezielle Schwierigkeiten und auch individuelle Fähigkeiten. Was geübt werden soll kann nur im Einzelfall entschieden werden. Wie geübt werden sollte, das entscheiden jeweils die individuellen personalen, räumlichen und inhaltlichen Rahmenbedingungen.
Wegen dieser Vielschichtigkeit der Übungsvoraussetzungen kann es keine Übungs-Rezepte geben, wohl aber bestimmte Übungs-Prinzipien, die unter lernpsychologischen Aspekten beachtet werden sollten.
Die möchte ich am Beispiel eines aphasischen Patienten aufzeigen. Dabei geht es mir um die Verhinderung des Vergessens und um die Stabilisierung der in der Therapie neu gelernten Fähigkeiten und um deren Automatisierung.
Ich beschreibe im Folgenden Übungsempfehlungen, die – in ihrer Gesamtheit und im Einzelnen – in jedem Einzelfall bei den Logo-Übungen zum Tragen kommen können. Darin beschreibe ich methodische, didaktische und organisatorische Rahmenbedingungen für die Logo-Übungen. Darin versuche ich Antworten auf die Fragen wie ?, was ?, wo ? und wie lang ? zu geben.
Alle Aktionen in einer Logo-Übung richten sich nach den aktuellen Inhalten und Erfordernissen aus der momentanen Therapie. Die Therapeutin gibt Hilfe in Form von Tipps und Handlungsideen zum Üben.
Bevor wir generell konkret in die geordneten Übungen einsteigen, sollten wir Klarheit darüber haben, was das Üben im Kern eigentlich bedeutet.
Üben ist eine Aktivität, die eine bestimmte Fähigkeit / Leistung / Handlung durch oftmaliges Ausführen verfeinert, vertieft, ausbaut (z.B. auf Anfrage die Uhrzeit fehlerfrei sagen können, oder Sätze frei sprechen können). Die Übungen werden i.a. so lange durchgeführt, bis das Übungsziel zur Zufriedenheit aller Beteiligter erreicht ist (z.B. das laute, sichere Lesen von Zahlen, oder das Wiedergeben eines umschriebenen Geschehnisses in SPO-Satz-Struktur).
Das geordnete Üben ist eine Aktivitätenfolge, die nach bestimmten Vorgehensregeln ausgeführt wird. Logo-Übungen sollten grundsätzlich geordnet ablaufen.
Geordnete Logo-Übungen sollten in Übungsreihen durchgeführt. Eine Übungsreihe umfasst eine gewisse Anzahl von Übungs-Sitzungen.
Eine Übungsreihe setzt sich aus rund 10 Logo-Übungen mit wechselnden Aufgaben und jeweils individuellen Zielsetzungen zusammen.
Jede Logo-Übung besteht aus sich wiederholenden, gleichen Aktivitäten (z.B. das oftmalige Sprechen nur eines Satzes zu einer bestimmten Handlung).
Geordnete Logo-Übungen haben immer eine bestimmte, gleichbleibende Struktur in einem gleichbleibenden Ablauf.
Durch das konsequente Üben entwickelt der aphasische Mensch eine neue und solide Könnens-Basis für das weitere therapeutische Lernen in der nächsten Therapie-Sitzung.
Diese privaten Übungen helfen der Therapeutin dabei, erheblich weniger kostbare Therapiezeit für Wiederholungen opfern zu müssen. Die positive Konsequenz daraus ist, dass ihr dann mehr Zeit für die eigentliche therapeutische Erarbeitung von Neuem zur Verfügung steht.
Ich spreche jetzt über die Rahmenbedingungen für effektives Üben.
Weil auch in der geordneten Übung höchste Konzentrationsleistung erbracht werden muss, sollte die Übung zeitlich begrenzt sein, etwa auf 10 – 15 Minuten. Hohe Konzentrationsleistungen können die meisten hirngeschädigten Betroffenen anfangs nur begrenzt erbringen.
Ich empfehle dem Übenden, sich feststehende, wiederkehrende Übungszeiten am Tag aufzuerlegen, z.B. 2 x täglich a 15 Minuten, nach dem Frühstück und nach dem Mittagsschlaf. Der Übende gewöhnt sich im Laufe der Zeit an diesen Rhythmus.
Der Übungsort sollte auf jeden Fall Ruhe gewährleisten. Ablenkungen müssen ausgeschlossen werden. Übungen sollten bestenfalls an solchen Orten stattfinden, die speziell für Übungen reserviert sind. Dazu sind beispielsweise das ruhige, abgeschirmte Arbeitszimmer oder das Schlafzimmer geeignet.
Das Üben sollte „sinn“-voll geschehen sowie zielgerichtet sein. Sinnvoll meint, dass das Üben immer eine gewisse Herausforderung darstellen sollte, so dass dabei Lernprozesse ausgelöst werden. Und zielgerichtet meint, dass einer jeden Übungsaktivität ein bewusstes Anliegen innewohnen sollte, z.B. eine bestimmte Fähigkeit zu verbessern.
Die Art und Weise des Übens bestimmen a la longue den Effekt und die Wirksamkeit des Übungs-Lernen. Je mehr Erfahrung der Übende mit der Übungsdurchführung sammelt, desto größer wird sein kritisches Bewusstsein der Übungsart gegenüber. Er fragt sich möglicherweise: Hilft mir das wirklich, um das heutige Ziel zu erreichen ? Wie kann ich mir das besser merken ? Was muss ich tun, um das nicht zu vergessen ? usw. .
Insofern eröffnen sich ihm neue Möglichkeiten, die sachgerechte, von der Therapeutin fachlich unterstützte häusliche Übung aktiv mit zu gestalten. Das eigenaktive Eingehen auf die therapeutischen Lernprozesse aktiviert seine Lernpotenziale, die er effizienter nutzen kann.
Das regelmäßige Üben trägt im Übrigen ganz wesentlich dazu bei, dass der aphasische Mensch sein Vergessen von Therapieinhalten verlangsamt und sogar stoppt.
Jede Übung soll primär nur die bisher in der Therapiesitzung gelernten Funktionen einbeziehen. Es gilt, diese zu festigen. Daher lautet meine dringende Empfehlung: Stets nur das in der Therapie Erlernte üben ! Keine Experimente in der privaten Übung ohne therapeutische Supervision !
Interviewerin Frau B.:
Diese einzelnen Rahmen-Punkte, die Sie genannt haben, sind mir verständlich. Mir scheint, die kann man alle ohne großen Aufwand umsetzen
Middeldorf:
Und das ist mir sehr wichtig. Wir wollen ja keine unüberwindbaren Hürden aufbauen – wir wissen ja aus eigener Erfahrung, dass im Idealfall die Übung keine Last bedeuten darf sondern Freude bereiten soll. Die Schwelle soll so niedrig wie möglich sein.
Interviewerin Frau B.:
Was muss man beim therapeutischen, also geordneten Üben noch beachten ?
Middeldorf:
Zu jeder Übung braucht der Übende zunächst ein konkretes Übungsziel.
Das schreibt die Therapeutin auf, oder der Übende formuliert es bereits selbst, vorausgesetzt, er hat sich in die Systematik des Übens eingearbeitet.
Das Ziel sollte so klein wie möglich sein. Das Ziel sollte beinhalten, was der Übende heute, bis morgen oder bis zum Ende der Woche tatsächlich können will, z.B. drei schwierige Redewendungen zur Gestaltung eines small-talks.
Das Ziel, auf das der Übende hinarbeiten möchte, muss unbedingt innerhalb einer bestimmten, zeitlich begrenzten Übungsreihe erreichbar sein.
Darüber hinaus sollte er sich darüber klar werden, dass erfolgreiches Üben konsequenten Einsatz erfordert. Ich habe das eben schon angesprochen, das heißt regelmäßig, über einen gewissen Zeitraum, täglich einmal, besser mehrmals üben !
Wenn der Übende eine umfängliche Aphasie zeigt, also in allen Modalitäten, beim Sprechen, Schreiben, Sprache verstehen und Lesen Probleme hat, dann sollte er solche Übungen durchführen, die ihn mehrkanalig stimulieren. Darauf würde ich gern zu einem späteren Zeitpunkt im Einzelnen eingehen.
Weil das in der Sprachtherapie neu Erlernte neuronal verankert und stabilisiert werden muss – weil es sich also einprägen muss – sollte der Übende grundsätzlich das oftmals wiederholen, was er schon recht gut zu können glaubt.
Beispiel: Wenn das laute Lesen prinzipiell möglich ist, auch wenn es noch sehr langsam erfolgt, dann sollte er sich eine ihn interessierende Lektüre vornehmen und das laute Lesen so oft durchführen, bis er sie weitestgehend fehlerfrei (vor-)lesen kann. Der Übende sollte so oft den ausgewählten Text laut lesen , bis er ihn z.B. 10 Minuten lang oder länger ohne Versprecher schafft.
Zur Steigerung des Übungsniveaus sollte er im Laufe der Zeit dann Texte heranziehen, die immer kompliziertere Sätze beinhalten, z.B. politische Nachrichten oder Kommentare aus der Tageszeitung. Oder er kann beim lauten Lesen auch – wenn das Ziel eine deutliche Aussprache ist – beispielsweise auf die Reduktion der Fehleranzahl achten lassen und die in einer Strichliste protokollieren. Oder er verbindet zwei Leistungsanforderungen miteinander: Die Konzentration auf das korrekte, laute Erlesen seines Textes und die Konzentration auf eine bewusste, saubere Artikulation.
Zur Steigerung der Schwierigkeit sollte sich der Übende eine solche Übungsreihe zusammen stellen, in der er Schritt für Schritt gefühlt eine kleine Steigerung der Schwierigkeit spürt. Das Resultat zeigt sich in Form ausgezählter Fehler und durch den zu messenden Zeitbedarf. Wenn er in der anfänglichen Zeit weniger Fehler macht oder für die angezielte Leistung weniger Zeit braucht, dann ist das Ausdruck gesteigerter Leistungsfähigkeit.
Der Übende sollte zur Zeitmessung eine Uhr neben sich stellen und die für seine Übung benötigte Zeit messen. Er sollte das so lange durchführen, bis er die Zielhandlung als sicher empfindet.
Ganz wichtig: Extrem konzentrieren ! Der Übende sollte unbedingt ausgeschlafen sein und sich wach fühlen. Konzentration ist der Nährboden für effektives Üben.
Der Transfer (Übertrag) des neuen Könnens in das Alltagsleben ist die komplexeste Form der Übung.
Der Transfer als Übung sollte dann angegangen werden, wenn Patient und Übungspartner bereits über mehrmonatige Erfahrung in Übungen im funktionellen Bereich gewonnen haben.
Der Transfer ist der sukzessive Übertrag von funktionell Gekonntem in den Alltagsverlauf.
Beispiel: Herr O. lernt in der Therapie die Redewendungen Guten Tag, Maria. Wie geht es Dir ? Wie geht es Deiner Familie ? Gibt es etwas Neues ?
Wenn der Übende diese Redewendungen in der Therapiesitzung schon sehr gut sprechen kann, dann heißt es z.B. in der geordneten Übung, diese Redewendungen in Unterhaltungen anzuwenden. Damit das für ihn nicht zu schwer wird, sollte der Übende das sukzessiv in Schritten anwenden. Dabei sollte zuerst der Bekanntheitsgrad des Gesprächspartners beachtet werden. Man kann damit anfangen, dass man Gesprächspartner auswählt, die Herr O. gut kennt und vor denen er keine Scheu hat zu sprechen. Die von ihm angesprochene Person sollte Herrn O. also gut bekannt sein.
Diese Person und Herr O. sollten wissen, was sie da üben. Hilfreich ist, an das Proben im Theater zu denken. Aus der Übung wird ein kleines Rollenspiel. Oder Herr O. leitet einen small-talk mit dem Gesprächspartner ein, indem er mit den gekonnten Redewendungen das Gespräch anlaufen lässt. Ein Auftrag kann lauten, mit Hilfe der Redewendungen den Gesprächspartner „am Reden zu halten“.
Das Übungsziel ist erreicht, wenn Herr O. z.B. mit 5 unterschiedlichen Personen den small-talk weitestgehend fehlerfrei geführt hat. Herr O. lernt auf diese Weise erkennen, dass er mit seinen Redewendungen sehr wohl auf Erwachsenenebene kommunizieren kann und sich als „interessierter“ Gesprächspartner präsentieren kann.
Herr O. sollte sich nun vornehmen, bei der nächsten Party / Familienfeier jeden Gast mit diesen Redewendungen / Fragen zu „interviewen“.
Wenn Herr O. das Gelernte also oft und noch öfter in der realen Kommunikation anwendet, dann verliert er nicht nur die Hemmung, so mit Fremden zu sprechen. Auch gewinnt er allgemein Sicherheit im Gespräch mit anderen. Er spürt, dass er mit diesen Redewendungen tatsächlich Einfluss nehmen kann auf das Verhalten des Gesprächspartners – indem dieser Antworten auf seine Fragen gibt.
Interviewerin Frau B.:
Wann sollte der Betroffene mit seinem Partner zu Hause üben ?
Middeldorf:
Immer dann, wenn er beim Übungshandeln Kontrolle und Korrektur benötigt, z.B. beim Wörter-Nachsprechen, beim lauten Lesen, beim freien Sprechen.
Wenn von Seiten der Therapeutin Übungen aufgegeben werden, bei denen dem Übenden während der Ausführung noch Fehler unterlaufen, dann sollte unbedingt ein Übungspartner z.B. der Partner als Coach bzw. Übungs-Trainer dabei sein und nach den von der Therapeutin gegebenen Regeln korrigieren.
Es können Partnerübungen durchgeführt werden, z.B. beim lauten Lesen, beim Nachsprechen auf Silben-, Wort- und Satzebene, bei Frage-Antwort-Dialogen, beim Sprachverständnis-Training, in dem der Übende z.B. Objekte zeigen oder Objekte benennen soll, oder Handlungen zeigen und dazu Sätze bilden soll, also immer dann, wenn der Übende von sich aus Antworten geben muss. Da er oft noch nicht in der Lage ist, seine Sprachproduktion oder sein Sprachverständnis auf richtig oder falsch einzuschätzen, braucht er die Rückmeldung durch den Partner.
Sobald der Übende bei einer Übungs-Reihe sichere, fehlerfreie Leistungen bringt, dann erübrigt sich die Kontrolle und Korrektur von außen.
Interviewerin Frau B.:
Kann der Übende auch irgend etwas alleine üben ?
Middeldorf:
Ja, bei speziellen Funktionsübungen. Und auch beim selbständigen Üben muss die Intention haben, ein bestimmtes Können erreichen zu wollen.
Beispiel: Das Benennen von einstelligen Zahlen ist für viele aphasisch Betroffene ein schwieriges Unterfangen. Immer dann, wenn sie eine Zahl sehen und benennen wollen, zählen sie oft noch unter Zuhilfenahme ihrer Finger in einer Reihe hoch, um dann an der richtigen Stelle die Zahl laut zu benennen. Der Betroffene zeigt, dass er diese rechtshirnige Leistung abrufen kann. Fatal ist es jedoch, wenn nach einigen Sekunden die gleiche Prozedur wieder erforderlich wird, weil eine andere einstellige Zahl genannt werden soll. In einem solchen Fall muss also die Assoziierung von gehörtem Zahlklang, gesehenem Zifferbild und selbst gesprochener Zahl erarbeitet bzw. trainiert werden.
Die Fixierung in der linken Hirnhälfte ist angesagt. Das Übungsziel ist: Sicherer werden beim Abruf und Benennen einer einzelnen, einstelligen Zahl, ohne Hochzählen.
Es gibt Videos, die ihm dabei behilflich sein können. Ich rate ihm, auf solche multimodalen Übungs-Medien, z.B. auf die Logovids, die logopädischen Videos von VMS, zurück zu greifen. Denn das Lesen und Aussprechen einer einstelligen Zahl, und später auch mehrstelliger Zahlen, ist nach meiner Meinung eine reine Übungssache, die der Übende ehrgeizig und mit dem Zahlenlogovid bespielsweise ohne Fremdhilfe durchaus erfolgreich meistern kann.
Interviewerin Frau B.:
Jetzt ist die Zeit schon wieder um. Herr Dr. Middeldorf, können wir bei unserem nächsten Treffen weiter über das Üben unterhalten ? Mich fasziniert der Gedanke, dass ein betroffener Aphasiker beispielsweise ohne einen Partner üben kann. Darüber möchte ich noch mehr wissen.
Middeldorf:
Einverstanden. Ich schau mal in meinen Terminkalender. Ja, heute ist Dienstag. Ich kann Ihnen als nächsten Termin erst Freitag, 18 Uhr anbieten. Sind Sie dann nicht schon im Wochenende ?
Interviewerin Frau B.:
Nein, dann noch nicht. Ich fahre erst am Samstagmorgen.
Middeldorf:
Na dann klappt das ja. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Interviewerin Frau B.:
Oh danke, ich Ihnen auch.
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